Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1994. 223 Seiten.
Es wird nicht mehr viele solcher Bücher geben; die Kinder von 1941 sind alt geworden und nur wenige leben noch. Authentische Berichte haben einen Wert an sich, unabhängig von ihrem literarischen Wert. Diese Zeugnisse verdienen großen Respekt, auch wenn nur immer wieder die Apokalypse heraufbeschworen wird, die doch je individuell erlebt wurde. Das Leiden, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit eines jeden Menschen ist einmalig und heischt gesammelte Aufmerksamkeit. Die Geschichte der Yudka Kalman ist eine weitere Variante der millionenfachen Not, gestohlener Jugend, physischer und psychischer Qual, aber auch unverhoffter Barmherzigkeit von ein paar mutigen Menschen.
Yudka wuchs in einer orthodox-jüdischen vaterlosen Familie in einem ruthenischen Dorf auf; ihr Vater war bald nach der Geburt der zweiten Tochter nach Argentinien ausgewandert, Verdienst gab es in den zwanziger und dreißiger Jahren keinen in der Slowakei. Die junge Mutter zog ihre beiden Mädchen allein auf und achtete vor allem darauf, daß sie die Schule besuchten, was damals dort in den Dörfern weder für christliche noch für jüdische arme Mädchen üblich war. Die katholischen Ruthenen und die Juden lebten ziemlich einträchtig in diesen hinterwäldlerischen Karpatendörfern zusammen. Man war ja auch aufeinander angewiesen. Bis zum Einmarsch der Deutschen; da brach die Welt auseinander. Die Juden wurden zusammengetrieben und unter ukrainischer Bewachung zu irgendwelchen „Umsiedlungslagern“ getrieben. Diese ukrainischen Bewacher kommen in allen Holocaust-Erinnerungen vor und immer zusammen mit den schlimmsten und grausamsten Taten. Die Ukrainer sind ein altes christliches Volk.
Yudka, die 14jährige, schildert die endlosen Märsche unter ständiger Angst vor Prügeln, ohne Nahrung und Wasser, mit der kleinen Schwester und der tapferen, aber sehr verschlossenen Mutter. Irgendeinmal wird die kleine Familie getrennt, und von da an ist Yudka auf sich allein gestellt. Sie hat weder ihre Mutter noch ihr Schwesterchen je wiedergesehen. Da sie selbst außer Jiddisch auch Tschechisch und bald auch Ungarisch spricht, kann sie sich unter falscher Identität als ruthenisch-christliches Bauernmädchen Maria durchschlagen. Eine katholische Bäuerin, die weiß, daß Yudka Jüdin ist, legt ihr ein goldenes Kreuz an einem Kettchen um. Sie bekommt sogar eine Stelle in einer Wehrmachtsversorgungseinheit. Ihr Arbeitgeber, ein deutscher Offizier, ist gut zu ihr. Ob er weiß, wer sich hinter der jungen Maria mit den langen Zöpfen versteckt, ist ungewiß. Jedenfalls übersteht sie den Krieg und heiratet bald darauf einen orthodoxen rumänischen Juden, mit dem sie in seine bereits kommunistische Heimat zieht. Sie bauen sich einen kleinen Weinhandel auf, haben zwei Kinder und es scheint, als sei doch noch ein menschenwürdiges Leben möglich. Allein die Kommunisten sind auch antisemitisch und aufs Geld aus. Yudka und ihren Mann packt wieder die gleiche Existenzangst wie unter dem Faschismus, und sie wagen erneut die Flucht, diesmal in den Westen. Nach einer Scheinscheidung, weil nur Yudka als Tschechin mit den Kindern eine Ausreisebewilligung bekommen kann — ihr Mann geht illegal über die Grenze — trifft die Familie in Österreich wieder zusammen. Nach weiteren mühsamen Irrwegen lassen sie sich in Antwerpen in einer chassidischen Gemeinde nieder, wo ihr Traum von einem lebenswerten, glücklichen Leben in Erfüllung gehen darf.
Schade, daß Rosine de Dijn nicht aus ihrer Journalistenhaut herauskann, ihre eigene Sprache der Yudka aus den Karpaten in den Mund legt. Es ist der Schriftstellerin verwehrt, sich mit der ungebildeten, aber klugen Jüdin zu identifizieren. Die Angst und Verlassenheit des jungen Mädchens, die Beziehung zur Mutter, das Mitmenschliche, alles wirkt unnatürlich abgeklärt und oft gestelzt. Die Autorin destilliert aus stundenlangen Tonband-aufnahmen ein Buch in der ersten Person Singular, ohne den zuckenden Herzschlag der ursprünglichen Ich-Erzählerin spürbar zu machen. Dies würde eine absolute Übereinstimmung von Inhalt und Stil erfordern und nicht nur gute Absicht. Sehr hilfreich sind die „Anmerkungen zur Geschichte, Geographie und Politik“ im Anhang an Yudkas Bericht.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 4/1997 Seite 202