Für die Einheit der ganzen Bibel. Herder, Freiburg 1993. 143 Seiten.
Der vorliegende kleine Band entstand aus zwei Kolloquien, die 1991 in Steinfeld/Eifel gehalten wurden. Der Alttestamentler Dohmen und der Neutestamentler Mußner argumentieren darin nicht nur für eine Einheit von Altem und Neuem Testament als Bibel für Christen, sie stellen vor allem die alttestamentliche Botschaft als ersten Teil dieser Bibel in den Mittelpunkt der Betrachtung. Denn gerade das Verhältnis der Christen zum AT hat in der Vergangenheit das Verhältnis zum Judentum aufs schärfste belastet und zu einer hermeneutisch fragwürdigen Auslegung geführt. Der Beitrag Dohmens zeigt auf überzeugende Weise auf, wie Christen heute Bibel wieder „von vorne“, also vom AT her, zu lesen haben. Überaus informativ stellt er den Weg der Kanonbildung dar und erläutert im ersten Teil, warum gerade die Abfolge von Altem und Neuem Testament nicht wertend eine Folge von schlecht zu gut oder von weniger wichtig zu wichtig bedeuten muß. Vielmehr sei es immer wieder anzutreffen, daß das Wichtigere voran stünde, ja, daß man im Zuge des Redaktionsprozesses gerade das bedeutend Neue an den Anfang stelle. Was nun das Neue Testament betreffe, so sei es eben nur deshalb Heilige Schrift, weil — und hier zitiert er Ch. Kannengiesser — „Jesus von Nazareth der ,Messias‘ der Bibel Israels im Glauben und Bekennen der Christen ist, deshalb ist das Neue Testament als vielfältige Darlegung dieses Bekenntnisses selbst ,Heilige Schrift‘ und darf und kann zur vorliegenden Heiligen Schrift gestellt werden“ (34). Nur weil und wenn das Neue Testament sich mit dem Alten zusammenschließt, ist es selbst Heilige Schrift. Jesu Botschaft ist nur im Horizont der bereits ergangenen Offenbarung im AT verständlich. Dohmen setzt sich in der Folge dann auch kritisch mit dem hermeneutischen Grundsatz auseinander, daß Christen das AT christologisch interpretiert haben. Auf sehr anschauliche Weise weist er nach, daß bereits das frühe Christentum keineswegs der Ansicht war, daß das Christusereignis die Schrift in ihrer Gesamtheit einhole. Vielmehr bleibe dieses immer nur von der Schrift her verständlich. Die Bibel sei nicht von einer christologischen Interpretation her zu deuten. Für das AT gäbe es ein doppeltes Verstehen, einmal als selbständige Heilige Schrift (so für Juden), zum anderen als Teil einer Verbindung zum NT. Während das NT nie allein und unabhängig vom AT existieren und ausgelegt werden könne, bedingt die Beziehung zum AT ein doppeltes Verständnis und ein doppeltes Lesen: zuerst „ganz allein, dann, beim Neuen Testament angelangt, geradezu nochmals ... Der traditionelle Grundsatz ,Das Alte Testament ist im Lichte des Neuen Testamentes zu lesen‘ muß folglich umgekehrt werden: Das Neue Testament ist im Lichte des Alten zu lesen“ (52 f.).
Franz Mußner setzt im zweiten Teil Dohmens Ansatz mit einer Durchsicht der neutestamentlichen Quellen fort. Die christologische Interpretation mancher Teile des AT wird als „neue“ Hermeneutik auf den Bruch der Urkirche mit dem Judentum durch das Christusereignis zurückgeführt. Die Bibel der Christen befragt Mußner nun nach der theologischen Klammer, die beide Teile, Altes wie Neues Testament zusammenhält. Und er findet diese in der Aussage: JHWH setzt sich durch! Mußner sieht darin die sog. „Mitte der Schrift“: „JHWHs Durchsetzungsvermögen hält die Bibel Alten und Neuen Testamentes zusammen. Von diesem Durchsetzungsvermögen erzählt die Bibel. Und daß JHWH, der Gott Israels, sich in der Geschichte der Menschheit durchsetzt, dies ist nicht bloß der Glaube und die Hoffnung der Christen, sondern auch der Juden. Das ,Ende‘ wird es offenbar machen. Der Eindruck der ,gewalttätigen‘ Auslegung des Alten Testaments durch die urkirchlichen Hagiographen rührt selbst her von dem dynamischen Prozeß, in dem der in Christus eschatologisch handelnde Gott Israels, JHWH, nun erkannt als der Dreieine, die Welt und ihre Geschichte verwickelt hat“ (119 f.).
In einem abschließenden Teil beschäftigt sich Dohmen mit den Aussagen des Zweiten Vaticanums (DV 12). Er sieht in ihnen einen Auftrag, die Bibel als Gesamtheit zu lesen, und zwar einmal mit den Augen des historisch-kritischen Forschers auf der Suche nach der historischen Aussageabsicht, zum anderen im Lichte des Kanons, im Lichte der Intention der Gesamtschrift als Sinn des Textes für uns. So verstanden werden Diachronie und Synchronie zu zwei sich ergänzenden Teilen des Verstehens der Schrift. Der Textsinn muß durch den Rezeptionssinn (dem lebendigen Verstehen) ergänzt werden. Letztlich werden alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft aufgerufen, „ständig die in der Schrift geoffenbarte Wahrheit Gottes zu erkennen, während sie gleichzeitig mitten in einer vollkommen menschlichen kirchlichen Tradition steht, die das Wort überliefert“ (133), somit teilzunehmen an der „fortdauernden Suche der Kirche nach der christlichen Bibel“ (133).
Dohmen und Mußner legen in diesem Buch einen leicht lesbaren und wichtigen Beitrag zur derzeitigen Diskussion um die Bibel vor. Sie erläutern auf überzeugende Weise, daß gesamtbiblisches Denken weder christologisch enggeführt noch mit einer Abwertung des Judentums verbunden werden darf. Die Betonung des Eigenwertes des Alten Testamentes und der zweifache Durchgang durch die Bibel als hermeneutisches Prinzip sind wichtige und unverzichtbare Bestandteile moderner christlicher Theologie. Christen, die nicht vergessen, daß ihr Glaube ohne das AT nicht existieren würde, ja, daß Neues Testament nur ist, weil es die Bibel des Judentums gibt, werden auch die jüdische Auslegung der Bibel als einen legitimen und gleichberechtigten Weg ansehen. Hier ist darauf hinzuweisen, daß derselbe Christoph Dohmen zusammen mit Günter Stemberger in den Studienbüchern Theologie soeben eine Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments herausgegeben hat, die sich als Weiterführung zu dem besprochenen Buch allen Lesern und Leserinnen empfiehlt.
Gerhard Bodendorfer
Jahrgang 4/1997 Seite 204