Der Weg eines Holocaust-Forschers. Aus dem Amerikanischen von Günter Holl. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1994. 175 Seiten.
Raul Hilbergs Werk „The Destruction of the European Jews“ („Die Vernichtung der europäischen Juden“, 1989, Fischer Verlag) gilt seit langem als ein Standardwerk der Holocaust-Forschung, wenn auch einige seiner Grundthesen von Anfang an heftig umstritten waren. Sein neues Buch ist eine fesselnde Kombination von Autobiographie und Wissenschaftsgeschichte des Holocaust. Hier schildert der Autor, wie er auf sein Lebensthema stieß, wo die Anfänge und Intentionen seiner unvorstellbar schwierigen Untersuchung liegen, wie sich die Arbeit entwickelte, welche Widerstände sich von den verschiedenen Seiten einstellten, wie sein Hauptwerk schließlich doch zu einem späten Erfolg wurde. Er betreibt seine ganze Arbeit in der Überzeugung, daß es nur einen Sinn im Leben, aber keinen Sinn des Lebens gibt.
Hilberg, 1926 in Wien geboren, erzählt von seinen jüdischen Eltern, die aus Galizien kamen und mit ihm 1939 noch gerade rechtzeitig über Frankreich und Kuba in die USA entkommen konnten. Seine Verwandten werden Opfer des Holocaust. Schon früh faßt er den Entschluß, über das zu schreiben, was den Juden widerfahren war. In den USA kann er seit 1948 in Archiven arbeiten, die reichhaltiges Material über die Nazizeit und die Judenvernichtung enthalten. Er kann eine Unzahl von kleinen und großen Quellen einsehen, ordnen, analysieren und sich so allmählich ein Bild von den Grundstrukturen des grauenhaften Geschehens machen. Franz Neumann, der selbst mit „Behemot“ ein wichtiges Buch über das NS-Regime verfaßt hatte, ist bereit, das Thema der Judenvernichtung als Dissertation anzunehmen, warnt aber Hilberg zugleich vor seinem Plan, weil das Thema damals weder in der akademischen Forschung noch in der Öffentlichkeit gefragt war.
Hilbergs erste These: Die Judenvernichtung war nicht zentral gelenkt. Die vier wichtigsten Hierarchien der Nazizeit — Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei — waren daran beteiligt. Die geballte Bürokratie stand im Dienst der Vernichtung. Unzählige Fachleute stellten ihre Ideen und Kenntnisse zur Verfügung. Die allumfassende Bereitschaft zur Tötung der Juden nannte er die „Maschinerie der Vernichtung“. Seine zweite These: Das Vorgehen erfolgte in allen Ländern nach dem gleichen Schema: Kennzeichnung der Juden, Aussonderung, Beraubung, Deportation und Vergasung. Dabei kam er auch auf die tragische Rolle der Judenräte in den Lagern zu sprechen, die er aus traditionellem jüdischem Verhalten in Verfolgungssituationen erklärt. So entstand ein Bild des ganzen „Vernichtungsprozesses“, der damals noch nicht „Holocaust“ oder „Schoa“ genannt wurde. Natürlich wollte Hilberg den gesamten Umfang veröffentlichen, fand aber lange keinen Verlag, der dazu bereit war. Am meisten verletzte ihn, daß auch Yad Vashem sein Manuskript 1958 ablehnte. Man warf ihm vor, sich fast nur auf deutsche Dokumente zu beziehen und hebräische und jiddische Quellen zu vernachlässigen. Vor allem aber habe er den aktiven und passiven jüdischen Widerstand nicht berücksichtigt. Diese Vorwürfe ziehen sich auch durch die ganze spätere Diskussion, so daß sein Werk gerade in Teilen der jüdischen Welt ins Zwielicht gerät. Darüber hinaus befürchtet er lange, auch von antisemitischen Kreisen mißdeutet zu werden. Er muß mit ansehen, wie viele Publikationen sich des von ihm entdeckten Materials bedienen, ohne ihn zu zitieren. Besonders heftig rechnet er mit Nora Levin, Lucy Dawidowicz und Hannah Arendt ab, obwohl letztere in mancher Hinsicht von ihm gelernt hat. In diesem Buch stellt er sich nüchtern und ruhig, aber mit spürbarer innerer Erregung, den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Er ist davon überzeugt, sie alle widerlegen zu können, weiß aber genau, daß historisch gewachsene und psychologisch verständliche innere Einstellungen nicht so leicht durch einen wissenschaftlichen Diskurs verändert werden. So durchzieht das ganze Buch des großen Holocaust-Historikers ein schwermütiger Grundzug. Das Buch schließt voll Resignation mit einem Zitat von H. G. Adler, dem Chronisten von Theresienstadt, der 1962 über Hilbergs Hauptwerk geschrieben hatte: „Was mich an dem Buch bewegt, ist die Hoffnungslosigkeit des Verfassers ...“ Er sieht Hilberg „bitter und verbittert, anklagend, kritisch nicht nur den Deutschen gegenüber (wie denn anders?), sondern auch den Juden und allen zuschauenden Völkern gegenüber. Am Ende bleibt nichts als die Verzweiflung über alles und der Zweifel an allem, denn für Hilberg gibt es nur ein Erkennen, vielleicht auch noch ein Begreifen, aber bestimmt kein Verstehen.“
Werner Trutwin
Jahrgang 4/1997 Seite 208