Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus. WUNT Bd. 85. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1996. 443 Seiten.
Der Verfasser stellt seine gründlich erarbeitete Habilitationsschrift klar in den Dienst eines neuen Verhältnisses von Kirche und Israel, in seinem Hauptteil zielgerichtet mit der Arbeitshypothese, „daß die Gottesvolkthematik, wenn auch nicht immer sofort terminologisch sichtbar, dennoch einen entscheidenden Hintergrund der paulinischen Theologie bildet“.
Als Ausgangspunkt wählt Kraus nicht die deduktive (vom AT ausgehende), sondern die induktive Methode: „Von einer bestimmten Fragestellung paulinischer Theologie herkommend wird ins AT und Frühjudentum zurückgefragt.“
Konsequent beginnt Kraus mit der Frage der legitimen JHWH-Verehrung unter Nichtisraeliten und der Aufnahme von Heiden in das Gottesvolk, um dann den Möglichkeiten und Grenzen der Erweiterung des Gottesvolkes in frühjüdischen Texten nachzuspüren. Der Status der neutestamentlichen „Gottesfürchtigen“ und „Proselyten“ war noch nicht ganz geklärt, doch die Beschneidung blieb das „sichtbare Zeichen des Eintritts in das Gottesvolk“.
Es folgen die „Strukturen paulinischer Gottesvolk-Ekklesiologie“, mit einer semantischen Vorstellung analytischer Begriffe, wobei der zentrale Begriff von „Volk Gottes“ (laos tou theou) nur zweimal in Zitaten aus dem AT vorkommt.
Der Hauptteil untersucht folgende Teile des Corpus Paulinum: Die Gleichstellung der Heiden mit dem Gottesvolk aufgrund der Erwählung durch das Evangelium im 1 Thess, neben einer erhellenden Interpretation des gewöhnlich judenfeindlich eingestuften Abschnitts 2,14-16 mit der klaren Feststellung, daß Ekklesia (als Sammlung der Erwählten vor dem Endgericht) nicht gedacht werden kann „ohne eine Kontinuität mit dem atl. Gottesvolk“. Fraglich ist, ob man so ungebrochen und einschränkungslos davon reden kann, daß sich die Thessaloniker (= Christen) „von den Heidenvölkern geschieden haben“, indem sie „Teil des Gottesvolkes geworden sind“. An anderer Stelle spricht der Verfasser zu Recht von einer „geschichtlich unterschiedenen Identität von Juden und Heiden“, deren Einheit „nur eschatologisch, am Ende der Zeit, denkbar“ sei (333,44). Die (Rest-)„heidnischen“ Elemente in der Kirche und ihrer Lehre sind schließlich nicht zu übersehen und führten immer wieder zu jüdischem Widerspruch.
Der „völlig gleichberechtigte Zugang zum Heil“ muß — aus jüdischer Sicht — nicht identisch sein mit der vollen Zugehörigkeit zum „endzeitlichen Gottesvolk“, der Ekklesia aus Juden und Heiden, mit der sich der Abschnitt über den 1 Kor beschäftigt.
Nach einem kleinen Abschnitt über die Gemeinde im Bild der Braut nach dem „Tränenbrief“ 2 Kor 10-13 folgt das wohl schwierigste Kapitel über „Die Glaubenden als Söhne Gottes, Nachkommen Abrahams und Erben nach dem Galaterbrief“. Hier muß erstmals von einer „bewußten Relativierung der Erwählung Israels“ die Rede sein, bis hin zu der Frage, „ob Israel unter diesem Aspekt (sc. der Zeit der Mosetora) nach dem Gal überhaupt als Gottes Volk angesprochen werden kann“, und daß infolge der „christologischen Konzentration“ „die Frage nach der Sohnschaft Israels unabweisbar“ ist. Die Schwierigkeit, in der paulinischen Theologie eine einheitliche Sicht Israels zu finden, ohne mit Entwicklungen und Umbrüchen zu rechnen (285), läßt auch nach der durchgängigen Verwendbarkeit des Begriffes „Gottesvolk“ fragen, zumal sich das Gottesvolk im Gal nicht über Tora und Beschneidung definiert, sondern über die Verheißung an Abraham und den Glauben (253).
Mit dem „Versöhnungsbrief“ 2 Kor 1-8 wird die christliche Gemeinde als neue Schöpfung und Volk Gottes untersucht.
Zweifellos der Höhepunkt ist der Römerbrief mit seiner Verbundenheit von Juden und Heiden unter der Verheißung Gottes. Unmöglich, hier den reichen Ertrag dieses Teils vorzustellen, in dem Paulus mit dem Rückgriff auf Abrahams Verheißung hinter die nur das Volk Israel bindende Sinai-Tora-Tradition (die Bedeutung der „Tora“ auch für die Völker bleibt eine offene Frage) das Fundament einer Neudefinition des Gottesvolkes legt, und wo die Kritik am nichtglaubenden Israel aus dem Gal nicht mehr wiederholt wird. Gottes Verheißungstreue garantiert die Errettung „ganz Israels“, also auch jenes Teils, der z. Zt. nicht zur „Heilsgemeinde“ zählt, weil er um der Verbreitung des Evangeliums unter den Völkern willen von Gott(!) „verstockt“ wurde.
Auch wenn in Zukunft um die Beschreibung der Verbundenheit weiter gerungen werden muß und das Ende der Geschichte ein „Geheimnis“ bleibt, so ist doch klar, daß für Paulus eine „Kirche ohne Beziehung zu Israel undenkbar ist“, auch wenn die Heiden nicht in den „Bund“ Gottes mit Israel aufgenommen wurden. Israel wird als Gottes Volk nicht abgelöst von der neuen „Ekklesia“.
Zu Recht stellt Kraus zuletzt die Frage nach der „Fortschreibung“ des Paulus. Er tut dies nach der entschiedenen und zutreffenden Feststellung, daß die paulinische Gottesvolk-Konzeption die einzige innerhalb des NT ist, die fähig ist, „das Problem Israel und Heiden so zu lösen, daß die Einheit des Gottesvolkes gewahrt und zugleich beiden Rechnung getragen wird“.
Literaturverzeichnis und diverse Register von Stichworten, griechischen, hebräischen/aramäischen Begriffen und Schriftstellen runden diese wissenschaftliche Untersuchung ab.
Hans L. Reichrath
Jahrgang 4/1997 Seite 210