Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von K. Aland, E. Peschke und G. Schäfer, Band 31. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994. 355 Seiten.
Anläßlich der 250. Wiederkehr des Geburtstags von Johann Kaspar Lavater (1741-1801) fand im November 1991 in seiner Vaterstadt Zürich ein Symposion statt, dessen Beiträge hier veröffentlicht sind. Lavater, ein evangelischer Theologe der Aufklärungszeit, versuchte eine rationale Darstellung des christlichen Glaubens und der Offenbarung, verband damit aber auch eine tiefe Frömmigkeit und sogar einen uns schwer nachvollziehbaren Wunderglauben. Zugleich war er ein beachtlicher Schriftsteller, unermüdlicher Briefeschreiber, anregender Philosoph und nachwirkender Psychologe. Er hat das geistige Leben seiner Zeit über die Schweiz hinaus angeregt und war mit vielen großen Zeitgenossen bekannt. Goethe war von ihm begeistert, hat ihn aber auch mit Hohn und Spott überzogen. Das Buch zeigt, wie Lavater auf Theologie und Kirche, auf Literatur und Kunst, auf Psychologie, Pädagogik und Politik eingewirkt hat.
Der Sammelband nimmt seinen schönen Titel aus Anregungen, die sich in Lavaters berühmt gewordener „Physiognomik“ finden, in der er den Versuch unternimmt, aus den Körperformen eines Menschen auf dessen Charakter zu schließen. Letztlich wird für ihn die Wahrnehmung des menschlichen Gesichts zur Suche des Gesichts Christi. „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde ...“ ist zu einem wichtigen Motto im Werk Lavaters geworden.
M. Wehrli erstellt zunächst ein Lebensbild Lavaters im unruhigen Zürich seiner Zeit. In drei größeren Teilen wird sodann sein Lebenswerk dargestellt, das ständig zwischen rationaler Aufklärung und gefühlsbetontem Sturm und Drang pendelt: I. Lavater als Theologe, II. Lavater als Physiognomiker, III. Lavater und Zeitgenossen. Die Beiträge z. B. über die Theologie Lavaters von G. Ebeling oder über Lavaters Verhältnis zu Goethe von K. Pestalozzi können auch bei solchen Lesern Interesse wachrufen, die keine Lavater-Spezialisten sind.
Hier soll nur auf das Verhältnis Lavaters zum Judentum eingegangen werden. Bemerkenswerte und wohl auch neue Aspekte zu dieser brisanten Thematik finden sich in dem Aufsatz von Gisela Luginbühl-Weber, die auch die Redaktion des ganzen Bandes vorbildlich besorgt hat. Ihr Beitrag trägt den Titel „,... zu thun, ... was Sokrates gethan hätte‘: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit“. Dabei geht sie auf das komplizierte und wohl nicht unproblematische Verhältnis Lavaters zu Moses Mendelssohn (1729-1801) ein, mit dem Lavater eine Zeitlang in persönlichem Kontakt stand und den er gewiß auch sehr verehrte. Beide hatten 1769 Schriften über die Unsterblichkeit veröffentlicht: Lavater den zweiten Band der „Aussichten in die Ewigkeit ...“, Mendelssohn die 3. Auflage seiner berühmten philosophischen Schrift „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“. Im selben Jahr übersetzte Lavater auch einen Teil der Schrift des Schweizer Naturforschers und Philosophen Charles Bonnet (1720-1793), die unter anderem auf eine philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum hinauslief. Es war auch für die damalige Zeit aufregend, daß der noch junge Schweizer Autor Lavater diese Übersetzung dem schon bekannten und anerkannten jüdischen Philosophen Mendelssohn in Berlin widmete. Dabei bat er Mendelssohn, Bonnets Apologie für das Christentum zu widerlegen oder aber zu tun, was Sokrates getan hätte, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte. Mendelssohn war damals wohl sehr erschrocken und lehnte in seinem öffentlichen „Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich“ das Ansinnen Lavaters als Konversionsversuch ab.
Frau Luginbühl-Weber geht in ihrer Analyse vor allem auf die drei Fragen ein, warum Lavater gerade Mendelssohn seine Übersetzung Bonnets widmete, was er denn damit, wenn nicht die Taufe des Philosophen, bezweckt habe, und was Sokrates denn nach einer zustimmenden Lektüre Bonnets getan hätte. Sie versucht zu zeigen, daß es Lavater mehr um eine philosophische Diskussion seiner Thesen als um die Konversion Mendelssohns gegangen ist. Ob dieser Versuch, der eine gewisse Apologie Lavaters darstellt, gelungen ist, wird wohl noch eine offene Frage bleiben. Auf jeden Fall führt uns der interessante Artikel den Abschnitt europäischer Geistes- und Theologiegeschichte vor Augen, in dem das Judentum, begünstigt durch die Gedanken der Aufklärung, vorsichtig die ersten Schritte zu einer besseren Rechtsstellung und Anerkennung im öffentlichen Leben tun konnte — ein Weg, der später erhebliche Probleme mit sich brachte und schließlich abrupt versperrt wurde.
Werner Trutwin
Jahrgang 4/1997 Seite 216