Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv Neue Folge > 1997 > 499  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge
1993/94
1995
1996
1997
1998
1999
2000

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1993

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Mitteilungen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Zimmermann, Moshe

Wende in Israel

Zwischen Nation und Religion. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1996. 128 Seiten.

Als im Mai 1996 die israelische Rechte die Parlamentswahl gewonnen hatte und Benjamin Netanyahu als Regierungschef feststand, wurde weltweit die Besorgnis laut, der mühsam in Gang gebrachte Friedensprozeß könnte vorerst gescheitert sein. Möglichst ohne die Falken im eigenen Lager zu verprellen, versuchte Netanyahu, die internationalen Bedenken zu zerstreuen. Waren also die Besorgnisse und Ängste um den Friedensprozeß unbegründet?

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann warnt davor, die neueren politischen Entwicklungen in Israel zu verharmlosen: „Die Wende in Israel gleicht einem Erdbeben, auf dessen Nachwirkungen man länger als einige Wochen oder gar Monate warten muß.“ Zimmermann zeichnet das Bild einer in sich zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Nicht nur Juden und Araber stehen sich gegenüber, auch unter den Juden tobt ein erbitterter „Kulturkampf“ um das richtige Selbstverständnis des Staates, um die territorialen Grenzen, um den Umgang mit den Arabern und – vor allem – um die Rolle der Religion. Israel, so der Autor, sei dabei, sich vom ursprünglich säkularen Konzept des Zionismus zu verabschieden, dessen Vertreter vor allem europäisch geprägte Juden (Aschkenasim) sind. Der Staat Israel sollte ein tolerantes und demokratisches Gemeinwesen sein, in dem auch Nicht-Juden ihren Platz hätten. Um 1948, zur Zeit der Staatsgründung, stellten die Aschkenasim 90 % der Bevölkerung. Das änderte sich bald grundlegend durch die verstärkte Einwanderung von Juden aus orientalischen Ländern (Sephardim), die, so Zimmermann, mehrheitlich zu einer „prämodernen Verbindung von Nation (Ethnos) und Religion“ neigten. „Das Resultat war eine gescheiterte Integration und eine diskriminierte sephardische Subidentität.“ Davon profitierte politisch vor allem der Likud-Block, der mit Hilfe sephardischer Wähler 1977 erstmals die Macht erlangte.

Zimmermann gibt zu, daß die Unterscheidung Aschkenasim = Europäer und Sephardim = Orientalen etwas ungenau ist. Aber sie zeigt Tendenzen und Trends an. Und diese führen eindeutig weg von den Ideen einer modernen westlichen Demokratie hin zu national-religiösen und romantischen Staatsvorstellungen. Dazu passen die Bemühungen um historische Symbole wie Masada und deren Instrumentalisierung für das heutige Selbstverständnis; die Stilisierung Jerusalems zur 3000 Jahre alten „Hauptstadt der Juden“; die Ansprüche auf biblische Stätten im Westjordanland, das als „Judäa und Samaria“ bezeichnet wird. Eine Politik der Mythen und Symbole tritt an die Stelle nüchternen Überlegens und (Ver-)Handelns und verstellt den Blick auf die politische Realität. Träger dieser Entwicklung sind nicht (nur) Extremisten, sondern große Teile der jüdischen Gesellschaft, die es auch hinnehmen, daß erstarkte religiöse Parteien zur „inneren jüdischen Mission“ aufrufen und daß der neue Justizminister „eine tägliche Talmudstunde für die Beamten im gehobenen Dienst“ anordnet.

Zimmermann, der von Hamburger Juden abstammt, die in den dreißiger Jahren nach Palästina auswanderten, hat ein Buch geschrieben, das vor allem eines will: entmythologisieren. Judesein ist für ihn nicht in erster Linie religiös, sondern vor allem als politisch-moralische Haltung bestimmt. Er zitiert dabei den Zionisten und Historiker Hans Kohn: „Das Judentum will zeigen, wie Menschen miteinander leben sollen. Menschen – und nicht nur Juden.“

In den Mythen der israelischen Rechten und der Ultra-Orthodoxen sieht er eines der Haupthindernisse für einen Frieden Israels im Innern wie auch mit den arabischen Nachbarn. Im Kulturkampf um den „Charakter der Nation“ hat er wenig Hoffnung. Der Erfolg dürfte auf lange Sicht „auf der Seite der Religiösen“ liegen. Das säkulare sozialdemokratische Projekt des Zionismus sieht er heute als gescheitert an. „Die Bilanz nach hundert Jahren Geschichte des Zionismus und nahezu fünfzig Jahren der Existenz des Staates Israel offenbart den Abschluß einer Epoche.“

Eine mehr als ernüchternde – zuweilen etwas fatalistische – Bestandsaufnahme der aktuellen israelischen Zustände. Aber nichtsdestoweniger ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der israelischen Gesellschaft und ein unbedingt lesenswertes Buch.

Christian Schuler


Jahrgang 4/1997 Seite 222



top