Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv Neue Folge > 1997 > 505  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge
1993/94
1995
1996
1997
1998
1999
2000

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1993

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Mitteilungen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Alan Davies

Antisemitismus als Mythos

Kanadische Erfahrungen

Im Jahr 1985 erlebte Kanada die Gerichtsverfahren gegen zwei Antisemiten: Ernst Zündel, und Jim Keegstra. Einige Jahre später wurde Malcolm Ross, auf den Befund einer Untersuchungskommission hin aus dem öffentlichen Schuldienst entlassen. Schon in früheren Jahren hat Kanada Antisemiten hervorgebracht, bekannterweise den Quebecer Faschisten Adrien Arcand in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts und Goldwyn Smith, einst das Idol der Toronto Intelligentsia und Mentor des jungen William Lyon Mackenzie King um die Jahrhundertwende. Die kanadische Geschichte ist nicht so rein, wie die meisten Kanadier es gerne glauben möchten. Außerdem enthält sowohl Anglo- als auch Franco-Kanada eine angeborene Neigung zum Antisemitismus, die schnell ihre gefährliche Seite zeigt, wenn das soziale Gewebe von ökonomischen und politischen Stürmen zerrissen wird. Der Ausschluß jüdischer Flüchtlinge während der Nazizeit ist nur ein Beispiel dafür.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den westlichen Gesellschaften eine große Abneigung gegen den Antisemitismus im Nazistil. Dennoch, wie der französische Schriftsteller Pierre Paraf bemerkte, die Macht und Vielschichtigkeit der Rassenideologie, der vorherrschenden modernen Form des Antisemitismus, „läßt uns sogar in seinen schlimmsten Niederlagen nicht hoffen, daß er völlig ausgelöscht ist“. Aber auch hier ist er gewöhnlich nicht an der Oberfläche zu finden, sondern vermischt mit anderen unruhestiftenden „Ismen“.

Der Mythos als geschichtsbestimmende Größe

Der Antisemitismus ist nicht einfach ein Vorurteil oder eine besondere Art des Vorurteils, sondern ein komplizierter negativer Mythos, der sich über lange Zeit hin in der Geschichte des Westens entwickelt hat. Ein Mythos ist eine Geschichte, manchmal eine Fabel — gut oder schlecht — über die großen Fragen menschlicher Existenz. Daher haben Mythen kosmische Bedeutung; sie handeln vom Leben, aber sind weit größer als das Leben; sie beschäftigen sich mit dem Guten und dem Bösen, besonders mit den Ursprüngen des Bösen, und dies macht sie zur Ursache beständiger Faszination.

Ich habe kürzlich Elaine Pagels neues Buch The Origin of Satan gelesen, das eigentlich eine Studie der Entwicklung der Vorstellung von einem kosmischen Bösen im frühen sektiererischen Judentum und frühen Christentum ist. Dabei wird das Christentum als eine Form des Judentums gesehen. Die Sektierer dämonisierten ihre Feinde und verliehen ihnen kosmische Motivierung. „Ihr habt den Teufel zum Vater und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun“, sagt der Jesus des Vierten Evangeliums zu den ,Juden‘ des Vierten Evangeliums, wer diese auch immer gewesen sein mögen (Joh 8;44). Dies ist eine mythische Definition der Juden. Der Antisemitismus ist immer da zu finden, wo diese mythische Dimension auftaucht, und die Geschichte des Antisemitismus ist die Geschichte der Mythologisierung der Juden.

Mythen müssen nicht immer religiös sein, sie können auch weltlich oder wissenschaftlich sein. Der große Rassenmythos der weißen Europäer, der arische Mythos, eine Fabrikation des 19. Jahrhunderts, war sowohl ein historischer als auch ein wissenschaftlicher Mythos, und deshalb um so gefährlicher. Selbst der Ausdruck ,Antisemitismus‘, der in Deutschland im Zweiten Deutschen Reich geprägt wurde, war gewählt worden, weil er einen wissenschaftlichen Klang hatte und weil im modernen Zeitalter die Sprache der Wissenschaft die Sprache der Wahrheit ist. Der deutsche protestantische Theologe Paul Tillich sagte einmal, Mythos ist im modernen Zeitalter glaubhaft „nur in wissenschaftlichem Gewand“.

Mythen lassen sich nicht leicht zerstören. Sie haben ihre eigene Weise, sich immer neu Geltung zu verschaffen. Wir sind sowohl Geschöpfe des Mythos als auch mythos-schaffende Geschöpfe, und die Frage ist nicht, ob mit oder ohne Mythen, sondern ob wir mit guten oder schlechten Mythen leben wollen. Antisemitismus basiert auf einem schlechten Mythos, mit dem wir schon viel zu lange leben, aber sein mythisches Fundament trägt zur Erklärung seiner merkwürdigen Beharrlichkeit in der Welt nach dem Holocaust bei.

Der rollende Schneeball

Der Antisemitismus wurde wie ein riesiger Schneeball, der vom Altertum bis zum heutigen Tag gerollt worden ist und dabei immer neue Schichten aufgenommen hat.

Dieser Schneeball hat seinen Ursprung in der vorchristlichen hellenistischen Welt. Das Problem begann mit der Wiederbelebung altägyptischer Fremdenfurcht im Bereich der damals kulturell führenden Großstadt Alexandrien. Die römischen Herrscher begünstigten die örtliche jüdische Bevölkerung in Alexandrien. Dies führte zu Gewalttaten und brachte einen Zweig literarischer Judenhasser hervor. Bereits im vorchristlichen Alexandrien grassierte der antijüdische Ritualmord-Mythos und der Mythos von der Götterverhaßtheit der Juden. Damit wurden die Juden als Hasser der Menschheit angesehen. Das Christentum ist ein Zweig des Judentums. Deshalb enthält das Neue Testament die Kennzeichen des innerjüdischen religiösen Konflikts sowohl vor als auch besonders nach dem Römischen Krieg der Jahre 66-70/73.

Der Antijudaismus des Neuen Testaments ist größtenteils eine sektiererische Rhetorik, die in den polemischen Kämpfen des Altertums und der Identitätskrise der apostolischen Kirche wurzelt. Aus dieser sektiererischen Rhetorik wuchs die Adversus-Judaeos-Tradition, d. h. der christlich-theologische Antijudaismus. Dieser bewirkte eine Beschleunigung und Vergrößerung des Schneeballs. Als ehemalige Heiden anfingen, christliche Theologie zu schreiben, veränderten sie den innerjüdischen Streit zu einem Streit zwischen Nichtjuden und Juden. Es entwickelte sich das, was Jules Isaac „eine Lehre der Verachtung“ (der Juden) nannte. Daraus entstand das bekannte Bild des Gott-mordenden, fleischlichen und verfluchten Juden, das in westlicher Folklore so geläufig wurde.

Jedes darauffolgende Zeitalter fügte dem mythischen Schneeball neue Schichten und neue Geschwindigkeit hinzu, bis er zur reißenden Lawine wurde. Während des Mittelalters zwang eine blühende Ökonomie des Handels die Juden in unpopuläre Rollen — sie wurden Krämer, Zwischenhändler und Kreditgeber. Ohnedies schon als Kain und Mörder gebrandmarkt, wurde der Jude im Verständnis zahlungsunfähiger Christen nun auch noch Judas, der Verräter, der Christus für 30 Stücke Silber verkaufte: eine gefährliche Fusion religiöser und ökonomischer Symbole. Rekrutierungskampagnen für die Kreuzzüge erregten religiösen Fanatismus und führten zu Blutbädern an Juden in der Welt des Christentums, obwohl die Päpste oft vieles taten, um die Gewalttaten einzudämmen. Im 13./14. Jahrhundert folgten kirchliche Gesetzgebungen zur Ausgrenzung der Juden. Es kam z. B. zu öffentlichen Verbrennungen des Talmud in Paris und zu Vorschriften, wie Juden sich zu kleiden hätten, um nicht als Verführer der Christen auftreten zu können.

Zur Zeit von Reformation und Gegenreformation wurde der Antisemitismus verschärft, angeblich, damit eine kirchliche Erneuerung möglich sein könne. Ab dem 14. Jahrhundert mehren sich die Mythen von den Juden als Brunnenvergifter, Zauberer, Verschwörer gegen das Christentum, Hostienschänder, Verbündete des Teufels. Die Verschwörungsanklage gegen die Juden ist nicht erst auf die Protokolle der Weisen von Zion zurückzuführen, sondern hat schon vorchristliche und mittelalterliche Wurzeln.

Humanistische Regungen des 17. Jahrhunderts — als ,Vorspiel der Aufklärung‘ modifizierten traditionelle christliche Bilder zu einem gewissen Grad. Rembrandt stellte junge Juden des Amsterdamer Gettos sogar als Modelle für seine Jesus-Zeichnungen an. Trotz dieses hoffnungsvollen Trends sah das Ende des Jahrhunderts die Veröffentlichung eines der Klassiker des modernen Antisemitismus, Johann Eisenmengers Entdecktes Judentum, eine wilde Parodie rabbinischer Ideen, die viel von späteren Antisemiten verwertet wurde. Paradoxerweise hat das Zeitalter der Vernunft, diese zweite Renaissance europäischer Kultur, nicht nur den Judenhaß nicht abgeschafft, sondern hat es tatsächlich fertiggebracht, ihn durch die Verherrlichung des heidnischen Altertums wiederzubeleben.

Die Endphase

Seit der Morgendämmerung des modernen Zeitalters wurden rassistische Feuer geschürt, teilweise als Ergebnis des großen Zeitalters der Entdeckungen und der europäischen Begegnung mit einer größeren Anzahl von Nicht-Europäern. Die Geburt der Biologie, Zoologie, Anthropologie, Semitistik und Botanik und die Leidenschaft der Aufklärung, Daten zu klassifizieren, führte zu radikalen neuen Theorien über menschliche Ursprünge und menschliche Natur. Doch erst das 19. Jahrhundert konnte die entstandenen Theorien in eine voll entwickelte Ideologie der Rassen umwandeln, in die Überzeugung, daß Rasse alles erklärt. Das ist die wahre Bedeutung des Wortes ,Rassismus‘. Der neu erfundene Ausdruck ,Antisemitismus‘ nahm dieses Prinzip zum Ausgang.

Mit der Macht dieser Vorstellungen schlugen antijüdische Demagogen, gequält durch die jüdische Emanzipation im nachfeudalen Europa, auf die traditionellen Feinde des Christentums ein. Mit vermischten Vorstellungen von Religion und Rasse versuchten sie, die Juden zurück ins Getto zu zwingen. Beim Versuch, den Uhrzeiger zurückzudrehen, verbanden sie das Judentum mit allem anderen, was ihnen am modernen Zeitalter nicht gefiel, wie zum Beispiel Kapitalismus und politische Demokratie. In Deutschland, wob der Komponist Richard Wagner nationalistische und rassische Themen in seine Opern ein und prophezeite die Geburt einer neuen Ordnung und eines neuen ,Siegfried-artigen‘ deutschen ,Prometheus‘.

Die Stimmen der Linken waren nicht weniger virulent als die Stimmen der Rechten. Nach dem Beispiel von Karl Marx schimpften sie gegen semitischen Kapitalismus im Namen des arischen Sozialismus. Die Juden wurden verfügbare Symbole des Übels in einer Welt, die durch ökonomische, soziale und politische Umwälzungen jeder Art desorientiert war.

Nach dem Holocaust kam noch die Leugnung oder Minderung des Ausmaßes des Holocaust hinzu. Eine neue Generation von Antisemiten, die auf alte Schichten aufbaut, versucht, das Deutschland der Nazis zu rehabilitieren, indem sie das bestbezeugte Verbrechen moderner Geschichte leugnet. Die Nach-Auschwitz-Antisemiten ersparten sich keine Anstrengung, um die letzten 60 Jahre zu de- und rekonstruieren, und ihre fanatischen Anstrengungen lassen nicht nach. Nach einem kürzlich herausgegebenen Bericht über den Antisemitismus in der ganzen Welt (Antisemitism World Report 1996) gibt es zur Zeit in Kanada nur eine geringfügige antisemitische Aktivität, und sie erscheint meist in der sozialen Randzone. Kanadischer Antisemitismus ist jedoch keinesfalls verschwunden; er bleibt nur unter der Oberfläche, immer bereit, wieder zu erscheinen, sollte eine bedeutende Krise die Gelegenheit liefern. Die Feuer des Nationalismus, die gegenwärtig in der Provinz Quebec brennen, stellen wahrscheinlich die größte Gefahr dar, aber die elastische Qualität des Antisemitismus und seine Fähigkeit, sich jeder öffentlichen Unzufriedenheit anzuhängen, sollte nie unterschätzt werden. In anderen Ländern ist die Lage unterschiedlich, aber sogar in Ländern mit verhältnismäßig reiner Vergangenheit verbleibt ein harter Kern. Bestimmte Warnzeichen sind beständig:

  • die Tendenz, den Holocaust zu verringern, wenn auch nicht völlig abzuleugnen (eine besondere Gefahr in zeitgenössischer deutscher Historiographie),
  • die Legitimierung exklusiver Formen von Nationalismus (letztendlich hat aller Nationalismus eine ausschließende Qualität — aus diesem Grund würde ich mich selbst nie als kanadischer Nationalist bezeichnen),
  • die allgemein harscher werdende Sprache des öffentlichen Umgangs in großen Teilen der westlichen Gesellschaft,
  • die merkwürdige Wiederbelebung rassistischer und quasi-rassistischer Sprache an manchen Orten, zum Teil direkt, zum Teil indirekt (bestimmte sog. antirassistische Gruppen sind anscheinend selbst vom Rassismus infiziert),
  • die Legitimierung von Gewalt seitens antirassistischer und anderer Ideologen.

Pfarrer der United Church of Canada und Professor an der Universität von Toronto; PhD in christlicher Ethik zum Thema: Eine Kritik repräsentativer theologischer Lehren über die Juden im Kontext kirchlicher Beteiligung am Antisemitismus; Autor von Büchern und zahlreichen Artikeln zum Thema Antisemitismus in Geschichte und Glaube.

Der Artikel ist die Wiedergabe eines Vortrags zum christlich-jüdischen Gespräch im November 1996 in der Beth Tzedec Synagoge, Calgary, Alberta, Kanada. Übersetzung Fritz B. Voll.


Jahrgang 4/1997 Seite 264



top