Dritter Teil, Von Isaak bis zum Schilfmeer: BerR 63-100; ShemR 1-22: Einleitung, Übersetzung mit Kommentar, Texte. Judaica et Christiana Bd. 16. Peter Lang, Bern 1996. 452 Seiten.
Die wissenschaftliche Erforschung rabbinischer Gleichnisse hat am Institut für jüdisch-christliche Forschung lange Tradition: Clemens Thoma widmet sich seit über 15 Jahren dieser Materie. Zusammen mit David Flusser hat er als einer der ersten die Gattung der rabbinischen Gleichnisse einer gründlichen literatur- und textkritischen Forschung unterzogen. Das Ergebnis dieser Beschäftigung ist mit dem nun erschienenen dritten Band weiteren Kreisen zugänglich gemacht in Form von insgesamt 377 übersetzten und kommentierten Gleichnissen. Die beiden ersten Bände erschienen 1986 und 1991 in Zusammenarbeit mit Simon Lauer, ebenfalls im Peter Lang Verlag.
Die Einleitung zum dritten Band enthält neben der Einführung zu den 137 Gleichnissen die Quintessenz der Erforschung aller edierten Gleichnisse aus den drei Midraschwerken Bereschit Rabba, Pesiqta deRav Kahana und Shemot Rabba. Im Hauptteil (27-372) werden die übersetzten Gleichnisse in der von den ersten Bänden bereits bekannten zweispaltigen Darstellungsweise geboten, je eine Spalte für Maschal (Bildteil) und Nimschal (Offenbarungsteil). Anschließend (373-411) sind die Texte in größtenteils vokalisierter Originalsprache abgedruckt. Nach Quellen und Literaturverzeichnis (414-419) finden sich ausführliche Register (421-452), von denen besonders die neutestamentlichen Stellen für Theologie und Gleichnisforschung wertvoll sind.
In bezug auf die Datierung der Quellen sprechen sich die Herausgeber gegen die allgemein angenommene zeitliche Priorität von ShemR I (Paraschen 1-14 zu Ex 1-10) vor ShemR II (Paraschen 15-52 zu Ex 12,1-39,33) aus. Sie begründen dies mit „sprachlichen Signalen“, die an die Ausdrucksweise der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen erinnern, mit dem großen Anteil anonym überlieferter Gleichnisse und mit der ausführlichen Zitationsweise, die den Nimschal wesentlich in die Länge zieht (17). Die Schlußredaktion von ShemR II setzen sie im 11. Jh. an. Als Redaktionsort wird Südfrankreich oder Spanien vorgeschlagen. Diese Verlagerung vom alten Orient ins mittelalterliche Westeuropa wie auch die Annahme pseudepigrapher Gleichnisse (17) wird wohl nicht überall begrüßt werden.
Thoma und Ernst sehen aufgrund der erforschten Gleichnisse eine Entwicklung der Gleichnis-Gattung in drei Phasen: 1. die tannaitische Phase: 1. und 2. Jh. n. Chr.; 2. die amoräische Phase: 3.-5. Jh.; 3. die spätrabbinische Phase: 6.-11. Jh. (18). Kennzeichnend für die verschiedenen Phasen ist u. a. die Länge der Gleichnisse. Die Tendenz der Entwicklung der Gattung läuft von der pointierten Kürze des Maschals hin zur dramatisch ausgestalteten Erzählung. Diese hört sich im späten Gleichnis vom Schweinehirten (306-312) — das übrigens ans neutestamentliche Gleichnis vom verlorenen Sohn anklingt — an wie „eine Vorlage für ein religiöses Spiel, dem auch possenhafte Züge eigen sind“ (309). Ferner sind die rabbinischen Gleichnisse Zeugen der jüdischen Theologiegeschichte. Wie allen Verkündern der biblischen Offenbarung ging es auch den Rabbinen darum, die Botschaft der Bibel zu aktualisieren und sie dem geistig-religiösen Horizont der Hörerinnen und Hörer anzupassen. Die Gleichnisse waren hierfür ein beliebtes Mittel, wobei zweierlei angesteuert wurde: die Vermittlung des eigenen Glaubensinhaltes wie auch die Markierung der Grenzlinie gegenüber häretischen und fremden Glaubensauffassungen. Im kunstvollen Gleichnis vom Holz im Badehaus (236-240) schimmert z. B. eine vorsichtige Annäherung an die frühmittelalterliche westliche Bilderverehrung durch (239): Das Volk Israel ist die sichtbare „Ikone Gottes“. Wenn die Völker diese Ikone nicht mehr „zertrampeln“, sondern „schätzen und verehren“, dann finden auch sie zur wahren endzeitlichen Gottesverehrung.
Von besonderem Interesse für die Forschung ist die dargestellte traditionsgeschichtliche Entwicklung der rabbinischen Gleichnisse. Die Herausgeber zeigen auf, wie ältere Gleichnisse (z. B. aus Bereschit Rabba) später aufgegriffen und der neuen katechetischen und halachischen Situation angepaßt wurden. So z. B. die Drillingsgleichnisse Nr. 110-112. Unübersehbar ist laut Thoma und Ernst auch die Ähnlichkeit zur Exegese der Kirchenväter. Als Beispiel dafür mag das Gleichnis von den Piraten (266-269) dienen. Die Herausgeber sehen darin vorchristliche und vorrabbinische Motive, die sowohl von den Rabbinen als auch vom Kirchenvater Ephraem dem Syrer aufgegriffen wurden (268). In der vorliegenden Endfassung in ShemR vermuten sie eine verfremdete Nacherzählung einer frühen Kreuzfahrerflotte: Das Gleichnis erzählt von einem König, der mit seinen Söhnen auf hoher See gegen Piratenschiffe kämpft. Im Nimschal entpuppen sich die Söhne als Speere und der kriegslustige König als Gott, der für Israel gegen die Ägypter zu Felde zog. Ephraem nimmt das kombinierte Motiv der Speere und der Söhne ebenfalls auf. Bei zahlreichen Gleichnissen wird der Bogen zur christlichen Tradition und Exegese geschlagen, so u. a. bei Nr. 67, 68, 76, 78, 108, 113, 120. Dabei halten die Herausgeber nicht mit ihrer Überzeugung zurück, daß sich sowohl christliche als auch jüdische Auslegung und Paränese oft indirekt an der Position der anderen orientierte und diese sogar zu übertrumpfen suchte (203). Obwohl manche These über Aufnahme und Bearbeitung älterer Gleichnisse Vermutung bleiben muß, ist dieser dritte Gleichnisband ein wichtiger Beitrag zur spätantiken und frühmittelalterlichen jüdischen Literatur-, Theologie- und Traditionsgeschichte. Insbesondere stellt er die Zuschreibungen an bestimmte Rabbinen und die damit verbundene Datierung in Frage. Dafür bietet er aber sprachliche, historische und theologiegeschichtliche Einordnungen, die nicht von einer auf das rabbinische Judentum des alten Orients fixierten Horizontverengung geprägt ist.
Olivia Franz-Klauser
Jahrgang 4/1997 Seite 278