Übersetzt von Christina Viragh. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1996. 287 Seiten.
Schicksallosigkeit ergibt sich für Imre Kertèsz zwangsläufig aus diktatorischer Fremdbestimmung. Ein Kind, das mit 15 Jahren einer Diktatur ausgeliefert wird, verliert sein Schicksal.
So wie Kertèsz hat noch keiner geschrieben, noch keiner hat die verstörenden Worte „Heimweh nach dem KZ“ vernehmen lassen. Nie hätten wir gedacht, daß im KZ Glück zu erleben war. Es ist kein geistig Verwirrter oder Perverser, der das sagt, sondern einer mit einem überhellen Erinnerungsvermögen und nicht korrumpierbarer Wahrhaftigkeit, gefeit gegen jede Art Kitsch. „Denn sogar dort bei den Schornsteinen gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war ... Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen.“ Kertèsz erzählt in der Sprache der Jugendlichen der 40er Jahre, ohne Sentimentalität oder didaktische Absichten, ohne späteres Wissen einfließen zu lassen. Er denkt nur in nicht verarbeiteten Versatzstücken, bloß Aufgeschnapptem und Angelesenem. Moralische Begriffe und die dazugehörige Sprache gehören ihm nicht, ihm fehlt dazu ja die Erfahrung. Es ist nicht Altklugheit, sondern die verzweifelte Suche nach Sinn in der Sinnlosigkeit seiner Situation. Aus einer assimilierten Budapester Familie kommend, fern jeder Religiosität, erschöpft sich sein Judentum im Tragen des gelben Sterns und gibt ihm keinen Halt. Der Bub György ist sehr intelligent, beobachtet genau und findet daher oft, daß etwas „selbstverständlich“, „natürlich“ ist, was die deutschen und ungarischen Peiniger — aus deren Sicht! — tun. „Wenn ich es mir recht überlege“, daß man die Juden schindet, verhungern läßt und bei Bedarf umbringt, dann ist die Logik im Verhalten der Deutschen im Hinblick auf den Zweck ihres Tuns für György evident. Die Quälereien und Prügel hat man einfach zu ertragen, so wie die Läuse und die Kälte, bloß der Hunger ist beinah unerträglich. Weil er die „Sprache der Juden“ nicht kann, kann er nur mit ein paar ungarischen Jungen reden. Die Orthodoxen zählen ihn gehässigerweise nicht zu den ihrigen, weil er nicht Jiddisch spricht.
Der Fünfzehnjährige wird trotz amtlichem Ausweis der Arbeitsverpflichtung in einem Rüstungsbetrieb verhaftet, und damit beginnt eine alle Hoffnung zersetzende unendliche Zeit der sinnlosen Warterei. In Auschwitz angekommen, werden sie von „Verbrechern“ in Häftlingskleidung ausgeladen. Einer der „Verbrecher“ rät ihm, sein Alter mit „seschzayn“ statt der tatsächlichen 15 anzugeben. Bei der Selektion hat er Glück, er wird zu den Arbeitstauglichen gewiesen und ist stolz darauf. Er beobachtet alles aufmerksam, kann sich aber vorerst keinen Reim darauf machen, ist sogar neugierig, was weiter geschehen wird. Mit dem Fassen der Verbrechermontur und dem Kahlscheren verliert er zusehends das Bewußtsein seiner selbst als der, der er bisher war. In Buchenwald kommt er schwerkrank durch pures absurdes Glück ins Krankenrevier. Der Aufenthalt im Krankenrevier ist ganz unlogisch, denn Gesundwerden und Überleben war im Plan der Deutschen nicht vorgesehen. Hier, wo György von einem französischen Arzt und einem polnischen Pfleger behandelt wird, ereignet sich das Unvorhersehbare, tatsächlich Menschliche. Was diese beiden und wenige andere tun, ist das Gute, Absurde, das allein aus dem Entscheid eines Menschen zu seiner Würde stammt; Kertèsz, d. h. György, nennt es Eigensinn, denn das Wort Würde oder Sorge kennt er ja nicht. Der Entschluß, für einen anderen zu sorgen, sogar unter Lebensgefahr, gewährleistet die für ein humanes Leben unabdingbare individuelle Selbstverantwortung.
Der „Roman eines Schicksallosen“ ist ein literarisch kunstreiches Werk. Das Wesen einer Erzählung beruht auf Handlung, die Spannung und Lust am Lesen bewirkt.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 4/1997 Seite 280