Ein Streifzug durch 3000 Jahre. Benziger, Zürich/Düsseldorf 1996. 183 Seiten.
Wie keine andere Stadt auf Erden war Jerusalem von Anfang an das verheißungsvolle Symbol für Frieden, Gerechtigkeit, ja für die unbegreifbare Nähe Gottes. Synagogen, Kirchen und Moscheen stehen mehr schiedlich als friedlich nebeneinander, lassen Himmlisches und Irdisches oft zum Verwechseln ähnlich erscheinen. Unbeschreiblich, wieviel an Not und Elend, Blut und Tränen Jerusalem im Laufe der Geschichte gesehen und getragen hat. Sie hat sich immer wieder erholt. An ihrem Festtag „Yom Jerushalayim“ dominiert jedes Jahr die Freude, und mit der Freude die Hoffnung auf den festgegründeten Frieden, den diese Stadt in ihrem Namen trägt.
Die Journalisten Irmela Körner und Alfred Paffenholz laden zu einem „Streifzug durch 3000 Jahre“ ein, ein abenteuerliches, gewagtes Unternehmen, wobei sie versuchen, möglichst viel von dem zu „streifen“, was Jerusalem in seiner Tiefe und Weite und gar himmlischen Höhe ausmacht. Texte aus 3000 Jahren werden verbunden mit einzigartigen Fotos von Günther Sydow. Keine Touristenfotos, sondern Bilder, die das Vielschichtige, Komplizierte, Überraschende dieser Stadt einzufangen versuchen. Stimmen und Stimmungen werden hier präsentiert, anthologisch kommen die unterschiedlichsten Autoren zu Wort: Broder neben Buber, Elon neben Fleischmann, Feuchtwanger neben Freeden, Herzl neben Hess, Flavius Josephus neben Khoury, Kollek neben Lagerlöf, Lasker-Schüler neben Oz, Rabin neben Ben-Chorin, Scholem neben Singer, Sperber neben S. Zweig ... Und nicht zuletzt wird aus der Bibel zitiert. Der betrachtende Leser bekommt so einen starken Eindruck von den historischen, theologischen und politischen Ansprüchen, Gegebenheiten und Problemen, unter denen Jerusalem bis heute ächzt und stöhnt:
„Jerusalem ... ist tatsächlich ein Juwel mit besonderem Glanz und Schliff, einmalig und unverwechselbar ... Die ganze Welt in ihrer prallen Unterschiedlichkeit an Hautfarben, Glaubensrichtungen, Herkunftsländern und Kleiderordnungen scheint hier im Kleinen versammelt zu sein“ (7, 10).
Etwas von der Zwiespältigkeit, der Zerrissenheit des heutigen Jerusalem spiegelt sich in den Aufnahmen von Günther Sydow: Sie sind mehr für „Insider“, geben sie doch durch die Kunst der Mehrfachbelichtung Einblick in die facettenreiche Problematik des Nahostkonflikts, dessen Fäden in Jerusalem zusammenlaufen. Ineinander geschobene, aufeinander gelegte Bilder — es bedarf Zeit zur Muße, um sie zu entschlüsseln. Aber wer die Originale vor seinem inneren Auge vorbeiziehen läßt, gewinnt neuen Zugang zu dieser Stadt. Die Bilder werden zum Gleichnis für die vielschichtige Wirklichkeit Jerusalems, da verwischen die Konturen, kommt Fiktion ins Spiel, Visionen werden freigesetzt. Die Stiche und Radierungen dazwischen wirken beruhigend und verbinden die moderne Kunst der Mehrfachbelichtung mit der Vergangenheit. Das Buch wirkt farbig und quirlig, an manchen Stellen scheint etwas vom Stimmengewirr der Altstadt eingefangen, etwas von lauten, schrillen, auch dumpfen Tönen. Politisch endet der Streifzug: Das Lied von Jaacov Rotblit, von Jitzhak Rabin kurz vor seiner Ermordung gesprochen, weist den Weg zum Frieden für Jerusalem und Israel. Dazu als letztes Bild: die „Halle der Erinnerung“ in Yad Vashem. Amos Oz, das „Gewissen der Nation“, hat über den Friedensprozeß gesagt: Aus Gründen des Überlebens muß Frieden geschlossen werden! „Der Frieden ist wie das Leben selbst: kein Ausbruch der Liebe, keine mystische Kommunion unter Feinden, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger Kompromiß unter Gegnern.“
Dieter Krabbe
Jahrgang 4/1997 Seite 289