Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus. WUNT II/87. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1996. 359 Seiten.
Mit einer soliden wissenschaftlichen Arbeit (Dissertation, Heidelberg 1994) ist es dem jungen Pfälzer Theologen gelungen, sein zentrales Anliegen zu realisieren: den Paradigmenwechsel hinsichtlich der Beurteilung des Apostels Paulus herauszuarbeiten, der sich in den letzten Jahrzehnten in der jüdischen Forschung abzeichnet.
In einem ersten Teil referiert er kritisch-vergleichend am Beispiel von über 20 jüdischen Forschern die Geschichte der jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus. Es ist eine spannende, oft verwirrende Geschichte von der „Verdrängung des Paulus“ — um dessen und der von ihm gegründeten Kirche willen das Judentum gelitten hat — bis hin zur „Heimholung des Ketzers“ (H. J. Schoeps), der nun positiv als ein substantiell möglicher Teil des Judentums erkannt wird.
Der zweite Hauptteil mit seinen thematischen Schwerpunkten der Auseinandersetzung mit Paulus dient einem weiteren Anliegen des Autors: in der jüdischen Paulusauslegung ein mögliches ideologiekritisches Korrektiv zu bieten für die neutestamentliche Wissenschaft, die noch immer unter der Last ihres antijudaistischen Erbes leidet. Nicht „Paulus als Pathologe des Judentums“ (Wellhausen), sondern die jüdische Paulusauslegung als Abhilfe gegen pathologische Deformationen des Christentums ist angesagt! Und so bieten die ausgewählten Themen wirklich die „Brennpunkte“: Die Christusvision(en) des Paulus und der Aufstieg zum Himmel im Judentum, die Anfänge der jüdischen Mystik — Die paulinische Gesetzeslehre und die jüdische Tora, die „Werke des Gesetzes“ bei Paulus — Die paulinische Heidenmission und jüdische Halacha für Heiden — sowie, ins Zentrum der derzeitigen Versöhnungsbemühungen führend: Die paulinische Israeltheologie und jüdische Zukunftserwartungen.
Die weichenstellende Bedeutung der Damaskusvision („Bekehrung“?) wird mit Recht an den Anfang gestellt, hat sie sich doch zweifellos ausgewirkt auf das Christusverständnis des Paulus und sein („postmessianisches“) Gesetzesverständnis, bis hin zu der angeblich „gesetzesfreien“ Heidenmission, die letztlich zu einer „heidenchristlichen Großkirche“ führte, „der das Ringen des Apostels um Israel und sein Gesetz fremd geworden war“, die das Heil auch für die Juden nur noch in ihrem Raum ansiedelte und dabei die Schlüsselfunktion des Römerbriefes verleugnete oder mißachtete. Merkwürdig wenig Beachtung findet immer noch die Tatsache, daß der irdische Jesus für Paulus ohne Bedeutung war, ein Umstand, der doch gerade im christlich-jüdischen Gegenüber Gewicht hat.
Wie und wozu erfolgt die Rettung „ganz Israels“? Gibt es einen „Sonderweg“ Israels, das immer noch „erwählt“ ist, an Christus (= der Kirche?) vorbei? Wird der wiederkommende Christus (warum muß das sein?) Israel bekehren (wozu?) und wird dies ein innergeschichtliches Ereignis sein? Besonders gefreut hat mich, daß der Autor die mühsam erarbeitete Änderung der Pfälzischen Kirchenverfassung am Schluß hervorhebt, denn hier ist die Rede von einer unabgeschlossenen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel, in die die Kirche zum Heil für alle Menschen hineingenommen wurde. Literaturverzeichnis, Stellen- und Sachregister mit griechischem und hebräischem Begriffsregister ergänzen das wichtige Buch.
Hans L. Reichrath
Jahrgang 4/1997 Seite 295