Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv Neue Folge > 1998 > 534  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge
1993/94
1995
1996
1997
1998
1999
2000

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1993

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Mitteilungen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Gabrielle Oberhänsli-Widmer

Die Rückkehr aus Indien

Bemerkungen zu einem Roman von Abraham Ben Jehoschua. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Piper, München/Zürich 1996. Deutsche Übersetzung und Seitenangaben nach der hebräischen Originalausgabe.

„Ein privatisierender Roman in einer politisch brisanten Zeit.“ Diesen Vorwurf mußte sich Abraham B. Jehoschua von mehr als nur einem Rezensenten gefallen lassen, als 1994 — nur kurze Zeit, nachdem der Friedensprozeß in Gang gekommen war — sein Roman „haShiva meHodu“ erschien, zu deutsch etwa „Die Rückkehr aus Indien“. In der Tat kommt die Handlung vordergründig als psychologischer Beziehungskonflikt daher, wobei jedoch hinter der Liebesgeschichte die Aufzeichnungen signifikanter Geistesströmungen des heutigen Israel stehen, welche auch von religionswissenschaftlichem Interesse sind. Grundriß bildet eine Art ,Éducation sentimentale‘ vierer chronologisch scheinbar in Unordnung geratener Teile: 1. Verliebtheit, 2. Heirat, 3. Tod, 4. Liebe. Protagonist und Ich-Erzähler in einem ist dabei Benjy Rubin, ein junger Assistenzarzt auf der chirurgischen Abteilung eines Tel Aviver Krankenhauses, der im Konkurrenzkampf um einen Weiterbildungsposten an dieser Abteilung das Nachsehen hat. Gleichsam als Trostpflaster erhält Benjy in Sondermission die Aufgabe, den leitenden Direktor des Krankenhauses, Lazar, und dessen Frau Dori nach Indien zu begleiten, um deren Tochter Einat heimzuholen, die auf ihrer Indienreise an Hepatitis erkrankt ist. Alles scheint nun darauf angelegt, daß der junge Arzt und Einat ein Paar werden, und tatsächlich nimmt die Liebe ihren Anfang in Indien. Doch verliebt sich Benjy nicht in die Tochter, sondern in die Mutter, eine Juristin, dicklich, symbiotisch mit ihrem Mann verbunden und — wie stereotyp wiederholt wird — „eine Frau, die nicht allein sein kann“. Zurück in Israel kommt es zwischen den beiden zu einer kurzen Affäre, die bei Benjy indes so sehr zur Obsession ausartet, daß sie fortan sein Leben bestimmt. Bestrebt, mit Lazars Frau selbst im Zivilstand eine Patt-Situation zu schaffen, heiratet Benjy Michaela, eine eigenbrötlerische, selbständige junge Frau, welche die Schule kurz vor der Reifeprüfung verlassen hatte und mit Einat nach Indien gereist war. Das junge Paar hat eine Tochter: Shiva — der Name oszilliert zwischen der Bezeichnung der hinduistischen Gottheit und der hebräischen Bedeutung ,Rückkehr‘. Als kurz darauf Lazar an den Folgen einer Herzoperation stirbt, intensiviert sich die Beziehung zwischen Benjy und Dori wieder, wobei Benjy versucht, auf der ganzen Linie in die Fußstapfen Lazars zu treten und schließlich seiner Frau Michaela ein Geständnis macht. Als Reaktion nimmt Michaela die kleine Tochter und reist kurzerhand mit ihr nach Indien. Diese Situation — von der Geliebten zurückgestoßen, von der Frau verlassen, der Tochter beraubt — weckt in Benjy eine gefährliche Todessehnsucht, aus der ihn unvermutet seine Mutter rettet. Sie fährt Michaela nach und holt Shiva aus Indien zurück. Der Schluß mündet nicht in ein Happy-End, verklingt aber in der Vision einer möglichen gereiften Liebe.

Was hier als grobes Handlungsgerüst zusammengetragen ist, wird kaum die Spannung an der Lektüre nehmen, denn die Größe des Romans liegt — wie auch in den früheren Werken Jehoschuas — in der subtilen Konstruktion psychologischer Skurrilitäten, in der differenzierten Beschreibung an sich unpoetischer Begebenheiten (die literarische Beschreibung der Operation am offenen Herzen Lazars sucht in der Weltliteratur ihresgleichen) und im reizvollen Kontrast stereotyper Epitheta gegenüber nuancierter Handlungsmotivationen.

Bucheinband - Ausschnitt
Bucheinband -
Ausschnitt

„Die Rückkehr aus Indien“ ist von maßgebenden israelischen Literaturkritikern als psychologisch-privatisierend eingestuft worden. Batja Gur („ha‘arez“ vom 8. April 1994) und Gershon Shaked (,,Modern Hebrew Lite-rature“ 14, 1995) interpretieren den Roman als Umsetzung eines psychoanalytischen Grundstoffes, charakterisieren die Liebe Benjys zur wesentlich älteren Dori in nicht sehr origineller Weise mit dem Schlagwort des Ödipus-Komplexes. Daß aber die Dimensionen dieser Geschichte weit über den intimen Rahmen der Protagonisten hinausreichen, möchte ich anhand zweier Elemente zeigen, einerseits am formalen Aspekt, andererseits an einer möglichen zweiten Übersetzung von „haShiva meHodu“: „Der indische Shiva“, eine Übersetzung, die bedeutsame Dimensionen zu Raum und Ideologie des Romans eröffnet.

Abraham B. Jehoschua ist ein Autor, der es immer wieder versteht, den vorgeblichen ,Realismus‘ seiner Romane mit stilistischen Innovationen zu relativieren. So versucht er in „haShiva meHodu“ eine neue Erzähldimension einzubringen mit fünfzehn in den Hauptfluß des Romans eingestreuten, kursiv gedruckten Einschüben. Diese Texte — aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers betrachtet — kontrastieren erheblich zu den Bekenntnissen des Ich-Erzählers und sind als Textsorte nicht einfach einzustufen: eine Art ,poèmes en prose‘, religiös-philosophische Allegorien, Verschlüsselung oder Schlüssel des Romans. Auf jeden Fall legt Abraham B. Jehoschua seine Hauptbotschaft in ebendiese schwer interpretierbaren Einblendungen. Mit ihrer Thematik von Liebe, Tod und Trennung, Schicksal, Bindung und Freiheit steht die vergeistigte Poesie dieser Passagen in krassem Gegensatz zur säkularisiert-klinischen Welt des Ich-Erzählers, wobei diese Geistigkeit ihre religiösen Sinnbilder aber gerade nicht dem Judentum entlehnt, sondern vielmehr den indischen Religionen, allen voran dem Hinduismus.

An dieser Stelle muß man nun auch die Zweideutigkeit des Romantitels einbeziehen: „haShiva meHodu“ als „Die Rückkehr aus Indien“ und als „Der indische Shiva“. Denn es sind vorerst die eingeblendeten Symbolpassagen, welche den fernöstlich religiösen Sinnstrang verdichten, beispielsweise mit Elementen wie dem dritten Auge, den göttlichen Figurinen und vor allem mit dem ständig wiederkehrenden Bild der Vögel, das der Text in direkten Zusammen-hang mit dem Seelenwanderungsgedanken bringt.

Daß diese Idee die jüdische Vorstellung des Dibbuk übersteigt und das hinduistische Konzept der Seelenwanderung zum Modell nimmt, zeigt namentlich die Szene, in der Benjy seiner Frau den Ehebruch gesteht. Und als in ebendieser Szene eine tanzende Shiva-Statuette zerbricht, faßt Michaela den spontanen Plan, nach Indien zurückzukehren.

Damit sind wir bei der räumlichen Strukturierung des Romans, welche, wie kaum ein anderes Erzählelement, den synkretistischen Flirt des israelischen Schriftstellers ausdrückt. Da ist zunächst eine grobe Einteilung in den aufgeklärt säkularisierten Westen, zu dem auch Israel geschlagen wird, gegenüber dem geheimnisvoll vergeistigten Indien. Der geheimnisvolle Kontinent wird ausdrücklich mechos chefäz genannt (436): Stätte des Sehnens und Ziel der Wünsche. Varanasi, die heilige hinduistische Stadt am Ganges, fungiert dabei nicht nur als „Herz Indiens“ (433), sondern als heiliger Ort schlechthin. Und in beinahe schon vermessener Manier vergleicht Benjy hinduistisches mit jüdischem Erbe, indem er sagt: „Es existiert hier etwas sehr Starkes, es ist schwierig zu erklären, etwas sehr Altes, nicht wie die historischen Ruinen bei uns, das hier ist nicht historisch, es ist greifbar wirklich“ (69).

Nicht nur, daß diese Valorisierung alarmierend ist, vielmehr noch fällt hier die Raumverteilung, verglichen mit der traditionellen hebräischen Literatur, völlig aus dem Rahmen. Über die Jahrhunderte wurden die jüdischen Dichter nicht müde, Israel und vor allem Jerusalem als Inbegriff aller Heiligkeit, als erhabenste und schönste aller Städte zu besingen. Religionsphänomenologisch betrachtet, trägt das Jerusalem der Diaspora-Literatur alle möglichen Erhöhungstopoi: Nabel der Welt, Weltenberg, Berührungspunkt zwischen Himmel, Hölle und Erde etc. Seit der im 19. Jahrhundert einsetzenden jüdischen Besiedlung des Heiligen Landes und in erster Linie seit der Eigenstaatlichkeit Israels 1948 löst sich indes in der hebräischen Literatur die räumliche Fixierung vom goldenen Jerusalem. Neue Brennpunkte der Sehnsucht werden anvisiert, und bedeutende Autoren zeichnen die heilige Stadt in ihrer religiösen Ambivalenz als Heil- und Unheilbringerin. Dieses literarische Phänomen richtet sich nun nach einem religionsphänomenologischen Grundsatz. Die Distanz entfacht die ungebrochene Erhöhung, die unmittelbare Nähe weckt das Gefahrenpotential.

Kaum ein Autor illustriert dies anschaulicher als Abraham B. Jehoschua. Bereits in seiner 1970 verfaßten Erzählung „Drei Tage und ein Kind“ bildet Jerusalem auf sehr eigenwillige Art Dekor und Handlungsspiegel zugleich. Jehoschua biegt hier den überstrapazierten Topos des goldenen, lichtüberfluteten Jerusalem mit seinen beseelten Steinen in seine Negativvariante um: eine unheilvolle Stadt von scharfer Kühle, mit nackten Felsen. In „haShiva meHodu“ geht Jehoschua noch einen Schritt weiter und verläßt Jerusalem, indem er die echte Spiritualität ins ferne Indien projiziert. Dies wiederum bestätigt nun zwei weitere Gesetzmäßigkeiten sowohl der Religionsgeschichte als auch der Literatursoziologie. Einerseits kann der heilige Ort nicht in der Nähe, sondern lediglich aus der Ferne sehnsuchtsvoll erfahren werden. Andererseits erlaubt nur die Sicherheit eines eigenen Territoriums, einem gewissen Synkretismus zu frönen. Das Judentum, welches sich während mehr als zwei Jahrtausenden Diaspora fremden Religionen gegenüber hermetisch abgeriegelt hat, kann sich nun im Schutz seines Staates Israel anderen Kulturen gegenüber unbeschadet öffnen. In Abraham B. Jehoschuas jüngstem Roman, den man durchaus als zuverlässige Gesellschaftsstudie gewisser intellektuell-säkularisierter Schichten Israels lesen kann, wird diese Öffnung eindrücklich veranschaulicht mit der Faszination indischen Götterfiguren gegenüber. Unnötig, auf das Bildverbot hinzuweisen, kennen wir im Judentum solche Statuetten doch nur von den biblischen Baalen und Ascheren, also aus der Epoche des antiken Staates Israel-Juda. Und doch ist „haShiva meHodu“ keine schwärmerische Huldigung an den Hinduismus, sondern vielmehr — wie es der Titel sagt — eine Rückkehr. Wenn man sich auch über den literarischen Wert der hypersymbolischen Passagen streiten kann, so muß man darin doch den Willen des Autors sehen, seinen Roman als Allegorie religiöser Geistesströmungen des modernen Israel zu lesen, Geistesströmungen, welche sich in einem kosmopolitischen Sinn anderen Kulturen gegenüber öffnen, um nicht zuletzt die eigenen Werte neu zu beleben und vertieft zu erfahren.


Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Dozentin für Hebräisch und Religionswissenschaft an der Universität Zürich.


Jahrgang 5/1998 Seite 10



top