In den Schreiben vom 16. Juni 1997 an Netanyahu und an den Vorsitzenden des Autonomierates Yassir Arafat hat der Papst beide Seiten zu gegenseitigem Vertrauen, zu Kompromißbereitschaft und zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses nach den jüngsten Spannungen im Heiligen Land aufgefordert.*
Wortlaut des Papstbriefes an Ministerpräsident Benjamin Netanyahu
In den vergangenen Monaten habe ich eine Hoffnung gehegt, die jeden Tag neu wird: und zwar, daß das Wort „Frieden“ im Nahen Osten — und vor allem im Heiligen Land — wieder zum Hauptbezugspunkt der politischen Tätigkeit und des Engagements aller wird, sowohl in der Region selbst als auch in der internationalen Gemeinschaft. Ich weiß, daß viele Anstrengungen unternommen worden sind und daß viele Leute ihre Hilfe angeboten haben, aber ich habe leider feststellen müssen, daß Schwierigkeiten verschiedener Art bis heute unüberwindbar erscheinen. Wir müssen zugeben, daß der Dialog zwischen den Parteien, vor allem zwischen der Regierung unter Ihrem Vorsitz und den Verantwortlichen des palästinensischen Volkes, auf den so viele Hoffnungen gesetzt wurden, praktisch zum Stillstand gekommen ist.
Diese Tatsache war für mich der Anlaß, Ihnen zu schreiben im Vertrauen auf die Freundschaft zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Staat Israel und in dem Geist der Offenheit und Herzlichkeit, der unser Treffen im vergangenen Februar gekennzeichnet hat. Gleichzeitig schreibe ich an Präsident Yassir Arafat, denn ich möchte Ihnen beiden meine große Sorge ausdrücken, sowohl für die Gegenwart als auch für kurz- und langfristige Projekte, falls diese Situation andauern sollte.
Sie werden verstehen, Herr Ministerpräsident, daß dieses Ansinnen meinerseits nicht von Interessen politischer Art motiviert ist oder auf den Vorschlag praktischer Lösungen abzielt, sondern daß es von einer tiefen Empfindung des Leids herrührt, und ich glaube, daß dieses Gefühl sicherlich der Traurigkeit und vielleicht sogar der Frustration der Mehrheit der Israelis und Palästinenser entspricht. Die israelischen und palästinensischen Verantwortungsträger wissen, wie viele Menschen auf den Frieden gewartet haben und immer noch darauf warten, in der Hoffnung auf eine Zukunft, die wirklich besser für sie sein wird. Ich schließe mich ihnen an in ihrem Wunsch, zu neuen Horizonten schauen zu können, wo die Leiden, Ängste und Unsicherheiten der Vergangenheit und Gegenwart durch gegenseitiges Verständnis, Vertrauen und friedliches Zusammenleben ersetzt sein werden. Dieser Aufruf meinerseits ist in erster Linie moralischer Natur. Ich richte ihn vertrauensvoll an all jene, die sich der Suche nach dem Wohl ihrer Völker verschrieben haben. Im Namen Gottes und des Glaubens an Ihn, der uns alle eint, mögen alle Seiten eine Zunahme der Spannung und Frustration vermeiden. Die Geschichte, vor allem die des Heiligen Landes, lehrt uns: Wenn große Hoffnungen lange Zeit unerfüllt bleiben, dann können sie zu weiteren, unvorhersehbaren Provokationen und unkontrollierbaren Situationen der Gewalt führen. Das israelische und das palästinensische Volk tragen schon jetzt eine allzu schwere Last des Leidens. Diese Last darf nicht noch erschwert werden; sie verdient im Gegenteil größte Bemühungen, um Wege zu nötigen und mutigen Kompromissen zu finden. Die Anstrengungen in diese Richtung werden Ihnen sicher die Dankbarkeit der zukünftigen Generationen und der ganzen Menschheit eintragen. Denn nur wenn das Heilige Land im Frieden lebt, wird es in der Lage sein, die vielen tausend Pilger würdig zu empfangen, die im Laufe des großen Jubeljahrs 2000 zum Beten dahin kommen möchten.
In dem Vertrauen darauf, daß diese Worte nicht unbeachtet bleiben werden, grüße ich Sie, Herr Ministerpräsident, herzlich und versichere Ihnen, daß dieser Apostolische Stuhl immer für die Verantwortlichen der Israelis und der Palästinenser offen ist sowie für all jene, die aufrichtig und mit gutem Willen ihre Unterstützung bei der Friedenssuche anbieten möchten. Auf die Entschlossenheit und die Anstrengungen aller Parteien bei ihren Bemühungen um das Wohlergehen Ihrer Völker rufe ich den Segen und Beistand Gottes in Fülle herab.
Wortlaut des Papstbriefes an den Vorsitzenden des Autonomierates Yassir Arafat
Die gegenwärtige Lage des Friedensprozesses im Nahen Osten und insbesondere die Unterbrechung „de facto“ des Dialogs zwischen den Palästinenservertretern und der israelischen Regierung veranlassen mich, Ihnen und gleichzeitig Herrn Benjamin Netanyahu, dem Ministerpräsidenten des Staates Israel, zu schreiben. Ich wende mich an Sie, Herr Präsident, im Gedenken an die gegenseitige Wertschätzung und Aufgeschlossenheit, die unsere vielen Begegnungen immer ausgezeichnet haben. Außerdem bewegt mich meine ständige Sorge um das Wohlergehen des palästinensischen Volkes. In den vergangenen Monaten hatte ich aufrichtig gehofft und jeden Tag dafür gebetet, daß der Frieden im Heiligen Land weiterhin das wichtigste Ziel eines offenen und konstruktiven Dialogs zwischen den Parteien sowie auch das Ziel eines dauerhaften und vernünftigen Engagements seitens der internationalen Gemeinschaft bleiben werde. Ich weiß, daß es an Anstrengungen und Versuchen nicht gefehlt hat, aber leider scheint es, daß sie bis heute vergeblich waren. Ich befürchte, daß — falls diese Situation andauern sollte — es immer schwieriger sein wird, die Suche nach dem Vertrauen wiederzubeleben, das für jede Verhandlung wesentlich ist. Ich bin tief besorgt und teile die Qual jener — vor allem Palästinenser und Israelis, die sich im Stich gelassen und frustriert fühlen, sich aber trotzdem nicht der schrecklichen Versuchung hingeben, den Konflikt wieder anzufachen und ihn noch gehässiger und gewalttätiger zu machen. Sie wissen, Herr Präsident, daß ich bei der Mitteilung meiner tiefen Sorge an Sie und an den Ministerpräsidenten von Israel allein von Beweggründen der sittlichen Ordnung veranlaßt bin, in der Gewißheit, verstanden und — so wage ich zu hoffen — im Namen der Menschlichkeit und im Namen des Glaubens an den Schöpfer, Gott, der uns allen gemein ist, gehört zu werden. Im Namen Gottes appelliere ich an die palästinensischen und israelischen Verantwortlichen, vor allem das Wohl ihrer Völker und die Zukunft der jüngeren Generationen in Betracht zu ziehen. Jene Generationen sollen nicht ihrerseits das übermäßige Leid erfahren müssen, das diese beiden Völker getroffen hat. Sie müssen fähig sein, vertrauensvoll nach vorne zu schauen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der Provokation, Spannung und Gewalt abgelöst werden von einem neuen Zusammenleben, das für alle von Vorteil ist. Die schmerzliche Geschichte der Vergangenheit darf nicht vergeblich und nutzlos gewesen sein, aber dies ist nur durch den Weitblick der Verantwortungsträger von heute möglich, der es ihnen erlauben wird, um jeden Preis das nötige Vertrauen und die Kompromißbereitschaft wiederherzustellen. Ich bin mir durchaus der praktischen und technischen Schwierigkeiten bewußt, die gewiß bei jedem Abschnitt dieses Weges auftauchen werden, aber ich bin der Ansicht, daß sie mit Mut und Entschlossenheit angegangen werden müssen.
Diese Tugenden sind denen eigen, die für den Frieden arbeiten in einem Land, das sowohl für die dort ansässigen Völker als auch für die ganze Menschheit heilig ist. Millionen Gläubige, Juden, Christen und Muslime aus allen Teilen der Welt schauen auf dieses Land. Viele von ihnen wollen eine Pilgerreise dorthin unternehmen. Auch und besonders aus diesem Grund sollte dort Frieden herrschen, damit der Sinn des herannahenden großen Jubeljahrs 2000 vollkommen sei.
Ich grüße Sie herzlich, Herr Präsident, und beteuere erneut meine Nähe zu Ihnen und zum palästinensischen Volk. Ich versichere Ihnen, daß der Heilige Stuhl immer bereit ist, die Vertreter der Palästinenser und Israelis willkommen zu heißen, die guten Willens und vertrauensvoll den Frieden aufbauen möchten. Der Heilige Stuhl wird dieselbe Aufgeschlossenheit gegenüber denen zeigen, die ihren notwendigen Beitrag aufrichtig leisten wollen. Der Allmächtige Gott segne jene, die Frieden säen und das Wohl aller Völker suchen.
Laut Information des Osservatore Romano in deutscher Sprache vom 1. August 1997, zwei Tage nach dem Bombenanschlag auf dem Mahane-Jehuda Markt in Jerusalem, der 17 Tote und mehrere Dutzend Verletzte gefordert hatte, dankte Ministerpräsident Netanyahu Johannes Paul II. für dessen offenen Brief vom 16. Juni und bezeichnete den Friedensappell des Papstes als vorbildlich. Netanyahu betonte, er teile mit dem Papst die Sorge über die Verzögerungen im Friedensprozeß. Seine Regierung tue alles in ihrer Macht Stehende, um Hindernisse auf dem Weg zum Frieden zu beseitigen. Netanyahu lobte den Appell des Papstes als „offen und doch ohne Einmischung“. Er sei vorbildlich für die Region und verdiene die volle Aufmerksamkeit aller, an die er gerichtet sei. Der israelische Ministerpräsident erklärte, seine Regierung habe sich nicht durch „negative Entwicklungen wie das wiederholte Auftreten von Gewalt auf der Straße“ von der Suche nach Frieden abschrecken lassen. Am 4. September erfolgte ein weiterer Selbstmordanschlag in Jerusalem mit acht Toten und mehr als hundert Verletzten.
Von palästinensischer Seite empfing der Papst am 16. September 1997 eine hochrangige Delegation unter der Leitung von Dr. Emil M. Jarjoui, Mitglied des Exekutivaus-schusses der PLO und Mitglied des palästinensischen Legislativrates für Jerusalem. In seiner Ansprache betonte der Papst, daß „niemand die Tragödien vergessen sollte, die die Geschichte des palästinensischen Volkes gekennzeichnet haben“. Zugleich forderte er Sicherheit für den Staat Israel, „in der tiefen Überzeugung, daß Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden Hand in Hand gehen“, und rief alle Verantwortlichen im Nahen Osten auf, „den Mut zu Brüderlichkeit, Dialog, Ausdauer und Frieden aufzubringen“.
*) Der Originaltext beider Briefe in englischer Sprache findet sich in L‘Osservatore Romano vom 27. Juni 1997.
Jahrgang 5/1998 Seite 21