Vom 20. bis 21. Juni 1996 fand in Neve flan, Israel, eine von der Israel Interfaith Association (JIA) und der Konrad-Adenauer-Stiftung organisierte Tagung statt zum Thema „Stolz und Vorurteil. Der Umgang mit Vorurteilen aus theologischer Sicht“. Die Hauptredner behandelten das Thema aus jüdischer, christlicher und islamischer Perspektive. Der folgende Beitrag aus dem Dokumentationsbericht (Israel Interfaith Association, Israel 1997) bringt, in etwas verkürzter Form, den Standpunkt des jüdischen Referenten.
Jede Religion hat ein spezifisches Selbstverständnis. Darum besteht die Gefahr, daß besonders in der Religion Arroganz und Engstirnigkeit entstehen. Dennoch ist auch wahr, daß alle unsere Religionen, sicherlich die abrahamitischen Religionen — sogar alle großen Weltreligionen — eine universale Vision und ein Gefühl von Verantwortung haben.
Alle Religionen haben also ihre eigene spezifische Identität, aber auch eine universale Verantwortung gegenüber dem Menschen. Die Schwierigkeit besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Vision und Verantwortung halten zu können: einerseits die eigene Identität zu wahren und gleichzeitig dem Nächsten gegenüber offen zu sein.
Im Blick auf die jüdische Lehre möchte ich besonders jene Prinzipien und Lehren betrachten, die universale Verantwortung fordern. Das erste und grundsätzlichste Prinzip des Judentums ist, daß die Tora auf Genesis gründet. Das Verständnis der Natur des menschlichen Wesens, das in Genesis deutlich wird, basiert auf einem Verständnis der Natur Gottes, das in ihrem Kontext revolutionär ist. Wir kennen die abrahamitische Revolution, nicht die Revolution des Glaubens an einen Gott, sondern die Revolution des ethischen Monotheismus. Dieses Konzept geht von einem moralischen Gott, von einer moralischen Absicht der Schöpfung und einer moralischen Absicht der Existenz aus. Es ist die Rede vom Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Diese Qualität von Göttlichkeit, verstanden auf unterschiedliche Weise von verschiedenen Kommentatoren, wird in der menschlichen Fähigkeit gesehen, Gutes und Böses zu unterscheiden und sich auf moralische Art und Weise zu verhalten. Daß göttliche Qualität in jedem Menschen ist, macht menschliches Leben unantastbar. So sagt Rabbi Akiba, der Weise aus dem 2. Jahrhundert: „Geliebt ist der Mensch, denn er ist im Bild Gottes geschaffen“ (mAv 3,14). Blutvergießen vermindert das Bild Gottes in der Welt.
Diese Vorstellung wurde in die Halacha, die Gesetzeslehre, aufgenommen: So sagt die Mischna in mSan 3-4, daß die Richter die Zeugen warnen müssen vor den Konsequenzen ihrer Aussagen. Sie müssen sie warnen, denn der kleinste falsche Hinweis könnte dazu führen, daß ein Unschuldiger verurteilt wird, und das wäre so, als ob sie die ganze Welt getötet hätten. Menschliches Leben kann nicht ersetzt werden, denn jeder Mensch ist individuell geschaffen. Der Midrasch erklärt, daß erst nach der Schöpfung des Menschen männlich und weiblich voneinander unterschieden wurden. Der ursprüngliche Adam ist sowohl männlich als auch weiblich. Auf die Frage, warum dann von der Erschaffung eines individuellen Einzelnen am Anfang berichtet wird, antwortet die Mischna: „Der Mensch ist als Einzigartiger erschaffen worden, um dich zu lehren, daß es jedem, der auch nur einen Menschen vernichtet, angerechnet wird, als ob er eine ganze Welt vernichtet hätte. Wer immer aber auch nur einen Menschen am Leben erhält, dem wird es angerechnet, als ob er eine ganze Welt aufrechterhalten würde“ (mSan 4,5). So wird hier die außergewöhnliche Bedeutung des menschlichen Lebens betont.
Interessant ist auch die Diskussion, die in zwei anderen Midraschim zu finden ist: Die zwei großen Weisen Rabbi Akiba und Ben-Azzai diskutieren darüber, was das höchste Prinzip für soziales Verhalten im Judentum ist. Rabbi Akiba sagt: Es ist das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19,18). Ben-Azzai sagt: Sei vorsichtig damit, denn du weißt so gut wie ich, daß das gefährlich sein kann. Es gibt ein wichtigeres Prinzip: „Dies ist das Buch von Adams Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, schuf er ihn nach dem Bilde Gottes“ (Gen 5,1). Der Midrasch erklärt so: Immer besteht die Gefahr, daß jemand seine eigenen subjektiven Erfahrungen macht und diese dann ihm zum Kriterium für menschliches Benehmen werden. Er könnte z. B. sagen: Ich will das Gebot ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ so verstehen, daß es meint, ich solle meinen Nachbarn so behandeln, wie er mich behandelt. Wenn er mich schlecht behandelt, werde ich ihn schlecht behandeln. Wenn sich niemand um mich kümmert, wenn ich in Not bin, warum sollte ich mich um irgend jemand kümmern? Diese Haltung, diese Art von „wie du mir, so ich dir“ ist eine zerstörerische moralische Haltung. Deshalb müssen wir betonen, daß das Leben und die Würde des Menschen heilig sind, ungeachtet dessen, wie du behandelt wirst, ungeachtet deiner subjektiven Erlebnisse. Nach Aussage von Ben-Azzai ist jeder Akt von Herabsetzung und Geringschätzung eines Menschen ein Akt der Herabsetzung und Geringschätzung Gottes. Das jüdische Selbstverständnis geht davon aus, daß bereits lange vor Abraham und damit lange vor Israel ein Bund zwischen Gott und der Menschheit bestand. Nach der Sintflut schloß Gott einen Bund mit Noah und seinen Kindern. Das heißt, er schloß diesen Bund mit der ganzen Menschheit. Ein Bund meint einen Zwei-Wege-Prozeß: Einerseits verpflichtet sich Gott, daß er die Welt nicht zerstören wird. Andererseits wird von den Menschen erwartet, daß sie ein grundsätzlich moralisches Leben führen.
Es gibt sieben noachidische Gebote. Sie alle sind moralische Grundsätze. Aus jüdischer Sicht ist jeder, der gemäß den noachidischen Geboten lebt, ein Gerechter. Ein guter Nichtjude, der die sieben Gebote hält, die Elternschaft Gottes anerkennt, der akzeptiert, daß eine höhere Macht hinter der Schöpfung steht, eine moralische Macht, die von uns moralisches Verhalten fordert, hat Anteil an der kommenden Welt, an dem, was Christen Erlösung nennen.
Die Tatsache, daß die ganze Menschheit Gott kennt, weist darauf hin, daß jedes menschliche Wesen Gott teuer ist. Im Midrasch Tanna debe Elijahu heißt es zu Psalm 132, „Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit“. Dieses sind die Gerechten der Völker der Welt, die Priester des Heiligen, gepriesen sei er, die in dieser Welt sind. Wenn der Psalm von „deinen Priestern“ spricht, die gerecht sind, spricht er nicht von Juden, sondern von Nichtjuden als gerechten Menschen. Gerechte Menschen sind wie Priester Gottes. Es spielt keine Rolle, was ihre Herkunft ist. Eine weitere Aussage aus Tanna debe Elijahu lautet: „Göttlicher Geist, göttliche Inspiration, der Heilige Geist ruht auf jedem Menschen entsprechend seinen Taten, ungeachtet seiner Rasse, Herkunft, Geschlecht. Wenn eine Person sich in der richtigen Weise verhält, ruht der Heilige Geist auf ihr.“
In unserer Tradition gibt es aber auch einige eher negative Passagen, die wir in ihrem Kontext zu verstehen versuchen sollen. Für das jüdische Volk war die Welt, in der ihre Identität und ihre religiöse Lebensweise sich entwickelte, vollkommen heidnisch. Moralische Lebensweise war in Israels Umwelt eher die Ausnahme als die Regel. Deshalb beschreibt die Tora die Welt um uns herum als pagan, als völlig im Widerspruch stehend zu jüdischen Werten und Zielen. Deshalb müssen wir eine gewisse Distanz wahren. Diejenigen, die mit uns Kontakt pflegen, müssen deshalb nicht Teil unserer Gemeinschaft sein, aber sie müssen die Werte der Gemeinschaft wenigstens respektieren und keine direkte Bedrohung für sie darstellen. Dies ist die fundamentale Unterscheidung zwischen „nochri“ oder „akum“, dem Fremden oder Götzenanbeter, auf der einen Seite und dem „ger toshav“ oder „ben Noach“, dem nicht-jüdischen Bewohner oder Noachiten, auf der anderen Seite. Die Basis dieser Unterscheidung ist: Der „ger toshav“ oder „ben Noach“ ist einer, der kein Götzenanbeter ist. Gemäß Maimonides‘ Definition im 12. Jahrhundert ist es jemand, der die sieben Gebote hält.
Die sieben Gebote sind das Verbot von Mord, Diebstahl, Inzest/Ehebruch, Gotteslästerung, Götzendienst. Das Verbot, ein Glied von einem lebenden Tier zu essen, ist als Verbot der Gewalt gegen Tiere zu verstehen. Das einzige positive Gebot besagt, daß der „ben Noach“ Gerichte zur Rechtsprechung haben muß, damit dem Prinzip der Gerechtigkeit gefolgt wird. Nach Maimonides ist ein Nichtjude, der so lebt, ein „ben Noach“ oder ein „ger toshav“, der in der jüdischen Gesellschaft, genau wie ein Jude, über alle zivilen Rechte verfügt.
Mit der Gründung des Staates Israel mußten die Rabbiner die Fragen der Beziehung Israels zu den anderen im Land ansässigen Religionen aufgreifen. Beide, Rabbi Kook, der erste aschkenasische Oberrabbiner, und auch sein Nachfolger, Rabbi Herzog, legten kategorisch fest, daß weder Christen noch Muslime Götzendiener sind, sondern Gläubige, die an moralischen Prinzipien festhalten. Deshalb sind Christen und Muslime, die im Staat Israel leben, als „gerim toshavim“ oder „bnei Noach“ anzusehen, als Mitglieder der Gemeinschaft, die volle zivile Rechte haben und vom Staat geachtet werden müssen.
Die negativen Dimensionen in jüdischen Texten in bezug auf Nichtjuden beziehen sich auf den Kontext einer Gesellschaft, deren Ethos jüdischer Lehre feindlich gegenübersteht. Aber wo ein Individuum moralisch lebt und glaubt, haben wir die Pflicht, ihn in unserer Mitte als einen integralen Bestandteil zu akzeptieren, zwar nicht als Teil der jüdischen Gemeinschaft, aber als Teil der zivilen Gesellschaft und wir müssen seine Rechte schützen.
Jede religiöse Tradition muß eher gemäß ihrer Teleologie als gemäß ihrer Theologie beurteilt werden, d. h. es muß gefragt werden, was das Ziel der jeweiligen Tradition ist. Bereits zur Zeit der Propheten und in unseren frühesten Ursprüngen betrachtete sich das jüdische Volk als durch den Bund mit Gott zu einer universalen Bestimmung verpflichtet. Die Grundlage für den Bund am Sinai, der wiederum grundlegend ist für das jüdische Selbstverständnis seiner religiösen Bestimmung, ist die Vorstellung, daß das jüdische Volk ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein soll. Ein Priester ist jener, der der Gemeinschaft dienen soll. Das jüdische Volk soll somit Priester der Menschheit sein, ihr dienen. Getan werden soll dies in der Art und Weise, wie Jesaja sagt: „... den Weltstämmen gebe ich dich zum Licht“ (Jes 49,6). Dadurch, daß Israel Gottes Gebote hält und nach ihnen lebt, soll es Gottes Namen in der Welt heiligen (Lev 22,32) und der Welt als positives Beispiel dienen. Wenn wir ehrlich sind, haben wir damit noch wenig Erfolg gehabt. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Nichtsdestotrotz, jenes universale Ziel ist die Vision des messianischen Zeitalters (Jes 2,9 f.), einer Zeit, in der es keine Verfolgungen mehr gibt. Die Menschen leben in Frieden, kein Volk erhebt das Schwert gegen das andere Volk, die Erde ist voll der Erkenntnis Gottes wie die Meere voll Wasser sind. Es ist der ideale Zustand von göttlichem Bewußtsein und moralischem Verhalten, das messianische Ideal für die ganze Menschheit.
Es gibt unterschiedliche Kulturen und Identitäten, jedoch kein Monopol auf Gott. Wenn er uns alle in unserer Unterschiedlichkeit geschaffen hat, bezieht er sich auch auf uns in unterschiedlicher Weise und wir, in unserer Unterschiedlichkeit, beziehen uns auf ihn. Darum finden sich die verschiedenen Völker in der Vorstellung vom messianischen Zeitalter. Es gibt verschiedene Wege, differenzierte Identitäten auszudrücken. Aber die Erkenntnis, daß wir alle Gottes Schöpfung sind, daß das Leben aller Menschen heilig ist, ist das universale Prinzip, das uns in unserem Verhalten gegenüber allen anderen Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, Hautfarbe oder ihres Geschlechts, leiten muß.
(Übersetzt von Dörte Lücke)
David Rosen, ehemaliger Oberrabbiner von Irland, Professor für Jüdische Studien am „Jerusalem Center for Near Eastern Studies“, Vertreter der ADL (Antidefamation League) in Israel für das Interreligiöse Gespräch und Repräsentant Israels in der internationalen jüdischen Dialoggruppe im Gespräch mit dem Vatikan und dem Weltrat der Kirchen (IJCIC).
Jahrgang 5/1998 Seite 25