Am 4. August 1997 jährte sich der hundertste Geburtstag von Dr. Erich Bloch (vgl. FrRu III/IV449), Publizist, Historiker und Landwirt, gestorben am 5. Februar 1994 in Konstanz. Bekannt ist auch seine Veröffentlichung „Die Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert; eine Dokumentation“, Konstanz 1971. Frau Else Levi-Mühsam, Jerusalem (vgl. FrRu NF 4/1997, 319), die aus der Ferne den im Konstanzer Stadtarchiv aufbewahrten Nachlaß von Erich Bloch betreut, hat uns nachfolgenden, von Erich Bloch an Clemens Thoma adressierten Brief zugesandt. Blochs Brief ist eine Weiterführung von Thomas Gedanken zum Thema „Der jüdisch-christliche Monotheismus – Eine Geschichte von Mißverständnissen “. Die Red.
Konstanz, 6. März 1983
Sehr geehrter, lieber Herr Dr. Thoma,
besten Dank für die Zusendung Ihres Vortrages „Der Jüdisch-Christliche Monotheismus – Eine Geschichte von Mißverständnissen“.
Es ist bestimmt nützlich, wenn man über Mißverständnisse zwischen den Glaubensüberzeugungen nachdenkt. Aber tatsächlich gibt es auf beiden Seiten Glaubenssätze und Lehrmeinungen, die mit der Zeit nicht mehr der Ratio standhalten. Durch die Unerbittlichkeit von Dogmen und Ritualien ist mehr Haß und Abneigung bis zu den Exzessen von Verfolgung, Inquisition und Religionskriegen in die Welt gekommen als Gottesfrieden und Verständnis. Es ist leider die Theologie, welche den wahren Jesus im Laufe der ersten Jahrhunderte so umgestaltet hat, daß die Juden jede Beziehung zu ihm verloren haben. Ich sehe nicht ein, warum die Juden grundsätzlich den wahren Jesus ablehnen sollten, wobei ich allerdings einräume, daß man auf jüdischer Seite unter Messias etwas anderes versteht, als auf christlich-katholischer Seite. Für die Juden ist der Messias der am Ende der Tage erscheinende Friedensfürst und König der Menschheit im erneuerten Jerusalem. Man hat Jesus zum wesensgleichen Sohn Gottes gemacht, der gottgleich herrscht als Pantokrator. Wer die synoptischen Evangelien schlicht liest ohne Vorurteil unter Abzug bekannter Interpolationen, kann sich leicht ein Bild machen, was Jesus wollte und für was er sich hielt. Jesus wollte im Sinne der Propheten mehr als eine Religion des Herzens, der sittlichen Verantwortung und des gerechten Denkens als die Herrschaft des intellektuellen Dialekts. Das letztere hat Paulus in das Christentum hineingebracht. Jesus wollte eine gesunde Beziehung zu dem Gesetz und seinen Geboten, aber keine primär überspannte rabulistische Interpretation. In diesem Sinn sollte auch nicht das kleinste der Gesetze aufgehoben werden. Im Mittelpunkt seiner Lehre stand die von den Propheten postulierte Ethik der Nächstenliebe, von ihm bis zur Feindesliebe gesteigert. Man sollte wie unter Brüdern in Gemeinschaft leben, wie das Philon von Alexandrien von den Essenern historisch berichtete. Es gab auch Essener-Gemeinschaften in den Städten und im ganzen Lande Israel, vermutlich auch in Nazaret, zum Teil mit anderen Weltanschauungsakzenten, als die Qumranessener sie niedergeschrieben haben.
Auch ich glaube als Jude an eine Sendung Jesu in seiner charismatisch offenbarenden Gestalt. Ich glaube, daß wir alle den Schöpfergott als Vater haben und daß Jesus in besonderer Nähe zu ihm stand, so daß wir alle weisheitsvolle und erlösende Worte von ihm empfangen können. Aber alle Versuche einer Glaubenslehre der Trinität bleiben eine einseitige Konstruktion im Hinblick auf Gottes unausdeutbare Erscheinung. Bestimmt bedient sich Gott unendlich vieler vermittelnder Kräfte, die in uns immanent und auch transzendent erkennbar sind. Die Frage, ob Jesus Gott war, ist irrelevant. Wenn Jesus aus dem Mysterium seines selbstgewählten Opfertodes und Leidens den Menschen bis auf den heutigen Tag nahekommt, steht er uns Juden bestimmt besonders nahe. Aber der absolute Erlöser der Menschheit ist er nicht geworden. Ihm war nur eine Messianität als Teillösung gegeben — den unerlösten Menschen zu trösten und dem Heidentum den Schöpfergott der Juden nahezubringen. Hier sind unsere Berührungspunkte. Was die Kirche an heidnischen und mystischen Ideen zur Bergpredigt hinzugefügt hat, würde ein lebender Jesus ablehnen. Seine letzte These war: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Wille Gottes“, und im „Vater unser“ heißt es „Dein Reich komme“. Bis heute steht es noch aus. Solange Juden und Christen die Postulate Jesu, das sind die schlichten Taten brüderlicher Liebe und gerechten Denkens, nicht erfüllen, sind wir Juden die Opfer des Leidens Jesu. Der große Märtyrer wird zu unserem Bruder. In diesem Sinn sind wir mit Jesus tragische Vorbereiter des erwarteten messianischen Reiches. Ich wünschte, die Juden begriffen, wie nahe der wahre Jesus ihrem Herzen steht, und die Kirchen befreiten Jesus von den Fesseln ihrer Dogmatik und dem Pilbul kanonischer Rechtsgläubigkeit.
[...] Man kann sagen, daß Juden und Christen vielfach nicht in die heiligen Bezirke Gottes vorgedrungen sind. Wenn wir aber gegenseitig unsere äußerlichen Umhüllungen wegwerfen, stehen wir im Heiligtum Gottes und sehen, wie nahe Juden und Christen beisammenstehen. Keine Offenbarung braucht ihren Standpunkt aufzugeben. Aber eine Metamorphose ist für die letzte Erkenntnis Gottes unsere Aufgabe. So ist, wie Martin Buber sagt, zu hoffen, daß die Religionen sich aus ihren „Exilen befreien“ [...]
Jahrgang 5/1998 Seite 36