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Eckler, Irene

Die Vormundschaftsakte 1935-1958

Verfolgung einer Familie wegen „Rassenschande“. Dokumente und Berichte aus Hamburg. Horneburg, Schwetzingen 1996. 178 Seiten.

Auf den Seiten 34/35 des Buches findet sich ein bemerkenswertes Bild. Es zeigt eine Fotographie vom Stapellauf des Schlachtschiffes Bismarck am 13. März 1939, bei dem Adolf Hitler selbst die Taufrede hielt. In der Menge der den Hitlergruß ausbringenden Arbeiter steht ein Mann — und grüßt nicht. Es ist August Landmesser, der wegen Rassenschande zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Irene Eckler zeichnet das Schicksal ihrer Eltern, der Jüdin Irma Eckler (mit arischen Vorfahren) und des Ariers August Landmesser (mit jüdischen Vorfahren) sowie ihrer älteren Schwester Ingrid nach. Als Irma Eckler und August Landmesser im August 1935 heiraten wollen, wird ihnen die Eheschließung verwehrt, obwohl das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre erst im September 1935 in Kraft tritt. So kommt ihr erstes Kind Ingrid am 29. Oktober 1935 außerehelich zur Welt, wird aber noch als Halbjüdin eingestuft, weil es noch vor dem 31.7.1936 (Nürnberger Gesetze) geboren wurde. Da der Vater die Verbindung nicht aufgibt, und am 6. August 1937 eine zweite Tochter, Irene, zur Welt kommt, die wie ihre Mutter als Volljüdin gilt, nimmt das Schicksal von Eltern und Kindern seinen tragischen Verlauf. Der Vater wird, was für die Objektivität des Gerichtes spricht, 1938 in einem ersten Verfahren aus Mangel an Beweisen freigesprochen und erst nach der Wiederaufnahme der Beziehung zu seiner Familie verurteilt. Später findet er als Soldat in dem kleinen Städtchen Ston an der dalmatischen Küste den Tod. Die Mutter wird verhaftet, durch verschiedene Frauengefängnisse geschleust und in Bernburg vergast.

Den größten Teil der Dokumentation nimmt das Schicksal der Kinder ein, ausführlich belegt bis in die Nachkriegszeit durch Dokumente auf dem Vormundschaftsamt in Hamburg. Nach der Verhaftung der Eltern kommen die Kinder zunächst in ein Waisenhaus. Ingrid kann als Halbjüdin bei ihrer Großmutter Friederike Graumann wohnen und überlebt den Krieg. Irene muß als Volljüdin vorerst im Waisenhaus bleiben, wo sie schweres durchmacht, wie Narben an ihrem Körper zeigen. Der Vormund der Kinder, Dr. Gerson, versucht vergeblich durchzusetzen, daß sie als Halbjüdin anerkannt wird. Irene wächst in der Folgezeit in Pflegefamilien auf. Besonders die Familie Erwin Proskauer kümmert sich rührend um das Mädchen, erzieht es wie die eigene Tochter und geht mit ihm in den Untergrund, als das Kind mit sechs Jahren den Judenstern tragen muß und deportiert werden soll. Der Sieg der Alliierten über die Deutschen beendet schließlich die Tragödie der beiden Mädchen Ingrid und Irene. Die Schwestern lernen sich kennen. Die Ehe der toten Eltern wird anerkannt. Die Kinder erhalten den Namen des Vaters Landmesser.

Das Buch, das keinen durchgehenden Text darstellt, läßt sich nicht lesen, sondern muß studiert werden. Die Vormundschaftsakten sowie die Briefe der Mutter aus dem KZ, Zeitungsaussschnitte, Fotos der Betroffenen und weitere Schriftstücke untermauern mit wissenschaftlicher Sorgfalt die Zwischentexte. Damit werden von vier Menschen, von denen zwei sterben und zwei überleben, fragmentarische biographische Hinweise aufbewahrt und der Nachwelt zur Mahnung mitgeteilt.

Bernd Bothe


Jahrgang 5/1998 Seite 47



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