John Tolands Theorie des Judenchristentums. Mit einer Neuausgabe von Tolands ,Nazarenus‘ von Claus-Michael Palmer. Institut Kirche und Judentum, Berlin 1996 (ANTZ 7). 184 Seiten.
Die philosophisch-sozialwissenschaftliche Dissertation von Gesine Palmer befaßt sich mit einer umstrittenen und originellen Randfigur der Geistesgeschichte. John Tolands Werk „Nazarenus“ von 1718, das im 18. Jahrhundert oft als besonders schädliches Produkt der Freimaurerei geschmäht wurde, nimmt verschiedene Aspekte der Gegenwart in der von christlichen und jüdischen Wissenschaftlern intensiv geführten Debatte über Paulus und das Gesetz vorweg. Anlaß zu dieser Diskussion war nach Palmer die Schoa und der rassistische und politische Antisemitismus als Folge eines christlichen Antijudaismus, aber auch die Annahme, daß ho nomos bei Paulus meist die Tora meine. Viele christliche Theologen versuchten daher, das Judentum vom Vorwurf der Gesetzlichkeit und Paulus vom Verdacht antijüdischer Polemik zu befreien. Einen anderen Weg ging im 18. Jahrhundert John Toland: Freiheit und Gesetz gehören für ihn zusammen, und der entscheidende Beitrag des Judentums für Europa ist das mosaische Gesetz. In seinem Werk Nazarenus kritisiert Toland die kirchliche Lehre von der Rechtfertigung. Sie sei inkohärent, stifte Unfrieden, ein typisches Produkt priesterlicher Ideologie und ohne Grundlage in der Bibel. Toland unterscheidet zwischen Judenchristen, für die das levitische Gesetz ewig gültig sei, und Heidenchristen, für die es bedeutungslos sei und die „durch den Glauben ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt“ werden. Gegen den Vorwurf, Gott erlasse unterschiedliche Gesetze und könne darum nicht als Garant für die Ewigkeit und Unwandelbarkeit des moralischen Gesetzes gelten, rechtfertigt Toland Gott mit dem Nachweis des ewig gültigen Gesetzes im ursprünglichen Plan des Christentums. Dieser Plan wäre die durch Jesus angeregte Öffnung und Reformation des Judentums. Was beide Gruppen verbinde, sei die selbstverständliche Beachtung des im mosaischen Gesetz enthaltenen moralischen Gesetzes. Die Heidenchristen aber hätten diesen Plan zerstört, indem sie die Rechtfertigungslehre aggressiv gegen die Judenchristen (die „Nazarener“ im Sinne Tolands) gewendet und diese zu Häretikern gemacht hätten. Für Toland ist Glaube kein Proprium des Christentums, sondern „als Glaube an einen Gott die Quelle und das Ziel des jüdischen oder mosaischen Gesetzes“. Da Glaube bei Toland für Christen jüdischer Herkunft die Treue zu Gesetzen und Traditionen erfordert, kann ein Jude, der seine Verpflichtungen ernst nimmt, gar nicht mehr konvertieren. Heidenchristen dagegen unterscheiden sich von Judenchristen durch jeweilige positive Gesetze und gleichen einander durch ihren Bezug zum Judentum, der „Christentum“ genannt wird (vgl. 91). Das nazarenische Christentum als einzige Gruppe, die das Fortbestehen der mosaischen Republik gewährleistet, ist darum das vernünftige Christentum (93). Die mosaische Re-publik versteht Toland im Sinne der ewigen Republik Ciceros. Die Verwirklichung der vernünftigen mosaischen Republik sei auch das Ziel der Lehre Jesu gewesen. Die Christen heidnischer Herkunft bekamen Anteil daran, indem sie Zugang zu dieser ewigen Institution erhielten, ohne auf ihre spezifischen Formen verpflichtet zu werden.
Für Toland ist die christliche Kirche eine politische und partikulare Körperschaft, der sich — wie dem Judentum — die Frage nach ihrer Bereitschaft zu einer friedlich-schiedlichen Koexistenz in einem Staat stellt. Die Mehrheitsreligion als Körperschaft neben anderen ist wegen ihrer offiziellen Vorrangstellung an Verpflichtungen gebunden. Gerade weil Toland die Religion der Mehrheit als eine politische Organisation auffaßt, hat sie keine Definitionsmacht über den Rechtsrahmen des Staates, sondern unterwirft sich der rechtlichen Definition durch den Staat. Dieser muß für den Ausgleich zwischen allen Sekten sorgen. Darum muß auch das Judentum in den Genuß staatsbürgerlicher Rechte kommen. Im Nazarenus wird so nicht nur eine Begründung für die Toleranz gegenüber dem Judentum, sondern auch ein Modell der Einheit in der Vielfalt entworfen. Mit seiner Theorie will Toland die Lehre von der Überwindung des Gesetzes als theologischen und politischen Grundfehler des Heidenchristentums korrigieren. Tolands Theorie des Judenchristentums ist gegen die Paulusinterpretation vom Ende des Gesetzes wie gegen die heftig umstrittene Rechtfertigung durch Glauben oder durch Werke gerichtet. Darüber hinaus berührt seine grundsätzliche Reflexion der politischen Verhältnisse seiner Zeit die Fundamente der westlichen Gesellschaften, denn nach Toland bewirkt die Ablehnung des — als Tora verstandenen — Gesetzes die Ablehnung des Judentums und der Juden, aber darüber hinaus auch die Untergrabung der Achtung der Menschen vor den Gesetzen überhaupt. Mit seiner Interpretation der Paulusbriefe und der Kirchengeschichte, die sowohl die Treue zum christlichen Erbe wie zur gesetzlichen Verfassung, zum Paulinismus wie zum Recht auf partikulare Differenz erlaubt, will Toland Paulus vom Verdacht freisprechen, für diese fatale Lehre verantwortlich zu sein.
Nicht nur für die theologische Diskussion über das Verhältnis von Glaube und Gesetz, sondern auch für die aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat ist die sorgfältige und in der Form eines Gerichtsverfahrens aufgebaute Arbeit Palmers (Streitproblem, Verfahrensfragen, Texte, Verhandlung, Freispruch) eine anregende Lektüre. Im zweiten Teil des Buches wird der englische Text des „Nazarenus“ von Claus-Michael Palmer neu ediert und so die Lektüre des Textes selbst ermöglicht.
Marie-Louise Gubler
Jahrgang 5/1998 Seite 57