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Jochanan Koenigsmann (Pseudonym)

Hans Jonas — Ethiker der Zukunftsverantwortung

Die Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen hatte vom 1. bis 4. Mai 1997, gemeinsam mit dem Seminar für Jüdische Studien der Universität Halle und der örtlichen Gesellschaft für Jüdisch-Christliche Zusammenarbeit, zu einem wissenschaftlichen Kolloquium „Logos und Kosmos. Denken und Werk von Hans Jonas“ in Mönchengladbach eingeladen. Der Austausch hatte einen doppelten Brennpunkt: die religions-wissenschaftliche und -philosophische Frage nach Gott und die Möglichkeit einer Ethik in einer zunehmend technologisch geprägten Zukunft. Die Tagung war vorbereitet und konzipiert von Hans Hermann Henrix und Eveline Goodman-Thau.

Im wissenschaftlichen Weg von Hans Jonas (1903-1993) lassen sich drei Etappen unterscheiden. Am Beginn steht die Beschäftigung mit der spätantiken Gnosis. Aber der Forschungsweg des jungen Wissenschaftlers wird abrupt durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Nach Emigration 1933 über England in das damalige Palästina nimmt er seine wissenschaftliche Tätigkeit wieder auf — zunächst in Israel, dann in Kanada und schließlich in den USA. Diese Phase steht im Zeichen der Begegnung des Geisteswissenschaftlers mit den Naturwissenschaften und läßt eine Philosophie des Organischen entstehen. Eine dritte und letzte Phase nach der Emeritierung bringt die Wende zur praktischen Philosophie und begründet Hans Jonas‘ Ruf über den Binnenkreis der Fachwelt hinaus als Ethiker der Zukunftsverantwortung.

Für den jüdischen Pädagogen und Zeitkommentator Micha Brumlik ist Jonas einer der wenigen Denker, die es unternahmen, Gott in der Zeit der Gottesfinsternis zu denken.

„Die technische, geistige und gesellschaftliche Kultur der Moderne war Bedingung für das Verbrechen der nationalsozialistischen Judenvernichtung. In ihm kulminierten die negativen Züge, welche die Moderne hervorgebracht hat, und zwar so, daß das ,Projekt Moderne‘ mit dem Schatten des Verbrechens belastet bleibt. So bleibt uns nur eine intellektuelle Trauerarbeit.“

Brumlik sah im 1934 veröffentlichten Frühwerk Jonas‘ „Gnosis und spätantiker Geist“ eine indirekte Kritik an Heideggers „Sein und Zeit“ und an einer ganzen Generation deutscher Denker. Jonas deutete die spätantike Gnosis als ein von Angst bestimmtes Weltverhältnis, in dem die Seele, verstanden als Funktion des feindseligen Kosmos, ein Tummelplatz der Dämonen sei. Diese Deutung

„wirkt im Rückblick als präzise Diagnose einer ganzen Generation deutscher Intellektueller von rechts bis links, unter denen Heidegger nur der Bekannteste ist. Wo bei Heidegger ein subjektives Bemächtigungsdenken herrschte, kritisierte Jonas die Schöpfungsvergessenheit der zeitgenössischen Philosophie. Wo Veränderung des Bestehenden nur als revolutionäres Zertrümmern gedacht wurde, drängte Jonas auf Veränderung durch Bewahren.“

Der Religionswissenschaftler Walter Beltz warnte davor, die Gnosiskritik von Jonas als Kritik der zeitgenössischen Philosophie zu interpretieren.

„Jonas hat immer bestritten, daß die Gnosis ein zeitübergreifendes Phänomen sei. Richtig ist, daß er die Gnosis mit Hilfe der Heideggerschen Existenzanalyse interpretierte, was umgekehrt zur gnostischen Interpretation der Existenzanalyse einlädt.“

Für Jonas ist der Glaube im Mythos besser geschützt als in Begriffen der Philosophie. Die Gnosis hatte aus der Grundbefindlichkeit der Weltangst einen Archetypen des Grundverhältnisses von Mensch und Welt geschaffen:

„Gnosis ist die mythische Anschauung des Weltwesens, wobei das Erkannte des Erkennens der Inbegriff aller welthaften Spekulation über Welt, Mensch und Gott ist. Gnosis ist immer eine Ansicht von Leben. Pistis als ,Glaube‘ ist demgegenüber immer eine Erkenntnis Gottes.“

Beltz wollte aber einen bloßen Gegensatz zwischen Gnosis und Pistis nicht gelten lassen. Er sprach mit Jonas der Gnosis auch eine Kreativität zu und nannte Hans Jonas einen „glaubenden Philosophen“. Seine spätere Organismus-Philosophie könne man als eine philosophische Übertragung des biblischen Schöpfungsberichts verstehen.

In seinem Beitrag „Machtentsagung Gottes? Ein Gespräch mit Jonas im Kontext der Theodizeefrage“ stimmte Hans Hermann Henrix der Kennzeichnung von Hans Jonas als einem „glaubenden Philosophen“ zu. Er machte aber auf innere Widersprüche im selbst erdachten Mythos zum Gottesbegriff nach Auschwitz aufmerksam. Jonas ließ in seinem Mythos den göttlichen Grund des Seins sich „im Anfang“ dafür entscheiden, dem eigenen Sein zu entsagen und sich dem Wagnis des Werdens anheimzugeben; er wollte seine Gottheit „von der Odyssee der Zeit“ zurückempfangen. Henrix plädierte dafür, am Begriff der Macht Gottes festzuhalten, indem er ihn mit Hilfe eines Gedankens von Emmanuel Lévinas ethisch interpretierte, ohne die eschatologische Perspektive auszublenden:

„Gottes Allmacht weckt unsere Sehnsucht nach ihr, ruft eine Bewegung auf sie hervor und scheint diese Bewegung in dem Augenblick, wo die göttliche Allmacht am notwendigsten wird, abzubiegen auf den Anderen, den Nächsten — in eine Verantwortung, die bis zur Stellvertretung für den Anderen gehen kann und bei den Heiligen in der Schoa tatsächlich gegangen ist.“

Die Rede von der Allmacht Gottes habe für die jeweilige Gegenwart einen ethischen Sinn.

„Zugleich hat sie ein ,Darüber hinaus‘, das besonders jenen gilt, die meine je gegenwärtige Verantwortung nicht erreichen kann: die Leidenden und Toten der Geschichte. Die Rede von Gottes Allmacht ist über ihren gleichsam prospektiven Sinn hinaus Anruf der Rettermacht Gottes und appelliert an ihn, wirksam und mächtig für jene zu sein.“

Lore Jonas gab zu bedenken, daß Hans Jonas keine eigenständige Theologie vorlegen wollte, sondern nur dem Schicksal seiner in Auschwitz ermordeten Mutter ein persönlich gehaltenes Echo zu geben suchte. Eveline Goodman-Thau ergänzte die in der Literatur anzutreffenden biographischen Skizzen durch Hinweise auf die Jerusalemer Zeit von Jonas. Sie betonte, daß Jonas sich in allen Etappen seines Wirkens gegen das Vergessen der Freiheit gewehrt habe. „Gott hat sich aus Natur, Geist und Welt zurückgezogen und kehrt nur durch des Menschen Freiheit zurück.“ Die Freiheit sei der Ursprung des Guten.

Den zweiten Tagungsschwerpunkt, „Ethikverständnis bei Hans Jonas“, behandelte der evangelische Sozialethiker Hans G. Ulrich. Die von Jonas aufgenommene Frage laute: „Wie lernen wir, in der faktisch ausgeübten technologischen Macht zu leben und diese so in die Hand zu nehmen, daß eine Fortdauer der Menschheit möglich bleibt?“ Jonas‘ Besorgtheit galt weniger der Atombombe als der quantitativ gewachsenen Macht des Menschen, die durch das tagtägliche, sukzessive Weitermachen die Welt kumulativ so verändert, daß wir ihr schließlich ausgeliefert sind.

„Die Technologie ist selbst darauf angelegt, immer selbst ausgenutzt zu werden. Eine Unterbrechung ist in der Regel nicht möglich. Hier stehen wir vor einer neuen Qualität der Macht. Die Forschung selbst ist schon Eingriff in die Welt. Wo sie erfolgreich ist, wird sie zum Thema der Ethik — nicht erst dort, wo sie mißbräuchlich genutzt wird. Gerade der Erfolg etwa der Gentechnologie ist ethisches Thema, weil er ein zutiefst fragwürdiger Erfolg ist.“

Es stelle sich die Frage, ob die Technologie unsere Art der Gnosis sei. Die Quelle ethischer Verbindlichkeit liege im lebendigen Zusammenhang des Menschen mit der Welt. Das sei seine gelebte Ontologie. Die Vorstellung, nach der Gott der Schöpfer uns Menschen einen Auftrag hinterlassen habe, radikalisiert Jonas: „Wir müssen so handeln, daß es um die Präsenz Gottes in der Welt geht und diese Präsenz durch unser Handeln geschieht.“

Die Überlegungen der beteiligten Philosophen spielten nur teilweise auf die vom Theologen skizzierten Zusammenhänge an. Franz Josef Wetz fragte, wie aus dem Gnosisforscher ein Verantwortungsethiker werden konnte. Es werde allgemein ein breiter Graben konstatiert: Am Anfang des philosophischen Wegs stehe die gnostische Angst vor der Welt, am Ende die Furcht vor den Folgen menschlichen Handelns.

„Aber wir nehmen bei Jonas eine unerschütterliche Beharrlichkeit gewisser Ideen wahr: es sind Heideggers Begriff der Sorge, ein grundlegendes Metaphysikverständnis und der Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Welt und des Menschen.“

Dietrich Böhler kennzeichnete Hans Jonas als einen großen Humanisten, der von den Kumulativwirkungen des menschlichen Handelns umgetrieben wurde. Jonas zielte auf eine begründete Antwort auf diese Kumulativwirkungen menschlichen Handelns, und zwar als Theorie und Praxis. Zur Überwindung des Verantwortungsdefizits forderte Böhler Dialog und Diskurs. Jonas hatte im Blick auf die Kumulativwirkungen des Handelns den Imperativ formuliert: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Böhler bildete von seinem Ansatz einer Dialogpragmatik bzw. Diskursethik den Diskursgrundsatz: „Verhalte dich so, daß Deiner Behauptung oder Deiner Tat alle auf Grund von sinnvollen, situationsbezogenen und wohl informierten Argumenten zustimmen würden.“ Es war eindrucksvoll, wie der Philosoph kritische Einwände von ärztlicher und philosophischer Seite aufnahm und mit seiner Heuristik der Vorsicht bzw. der Dialogerhaltung an der Unverantwortlichkeit der Tötung auf Verlangen festhielt. Sein Grundsatz, den Diskurs im Zweifel für das Leben zu führen, erbrachte eine Nähe zu mancher moraltheologischen Argumentation.

Daß eine Menschheit sei, ist eine Grundfrage des Werks von Hans Jonas. Als innere Achse in dieser Vergewisserung bestimmte Ulrich den „Ariadnefaden der Freiheit, die der Mensch mit der Natur teilt“. Jonas hat sehr klar die Möglichkeit des Schicksals gesehen, das dem Menschen droht, wenn er die Erde weiter schlecht verwaltet. Zugleich hat er vor der inneren Gefahr des Fatalismus gewarnt.

„Was steht gegen den Fatalismus? Die Überwindung der Gleichgültigkeit des Tuns oder die freie Entscheidung. Die Freiheit muß durch zwei Proben hindurch: durch die Probe der Wahrheit und Erkenntnis, sie darf also keine blinde Freiheit sein, sondern muß zwischen gut und böse unterscheiden; und durch die Probe des Handelns, sie darf also keine blinde Macht sein.“

Strittig blieb zwischen den Gesprächspartnern, ob man bei allem Logos des Philosophischen bei Hans Jonas auch so etwas wie ein Pneuma des Jüdischen als Quelle der Inspiration ausmachen kann. Wetz meinte, die Begriffe von Logos und Pneuma fänden sich nur im Frühwerk von Jonas, und warnte vor einer Vermischung verschiedener Stränge. Goodman-Thau plädierte dafür, im Werk von Jonas keine Trennung zwischen Religion und seinem Eingebundensein ins Leben der Moderne zu sehen. „Das Judentum meint kein Aufgehen in Kosmos oder Logos, sondern ist Tat.“ Auch Böhler sah bei Hans Jonas kaum ein Spannungsverhältnis zwischen einem Logos der Argumentation und dem Pneuma des Jüdischen.

„Für ihn steht die Verantwortung in der Welt im Zentrum. Sie bedeutet ein Dilemma zwischen dem Gewissen und dem faktischen Wollen. Es ist das Dilemma der Freiheit selbst. Die übliche Unterscheidung von gut und böse ist bei Hans Jonas durch die Unterscheidung von ,verantwortlich‘ und ,nicht verantwortlich‘ ersetzt.“

Die Tagung verschaffte der Stimme des jüdischen Philosophen intensiv Gehör. Eine interdisziplinäre Runde befaßte sich mit seinen Diagnosen und Therapievorschlägen zur Weltlage. Sein Gottesbegriff nach Auschwitz wurde von verschiedenen Seiten zustimmend und kritisch beleuchtet. Die Auseinandersetzung mit seiner Philosophie geschah nachvollziehend, abwägend und kritisch prüfend und manchmal auch über ihn hinausgehend. Bei allen Beteiligten wuchs die Überzeugung, daß der Dialog mit Hans Jonas weitergehen muß. Es ist wohl nicht nur der gütige Klang, der auch dort aus seinem Werk spricht, wo es um Besorgnis und Bedrohliches geht. Es ist wohl auch nicht nur die Wärme seiner Sprache, die selbst bei komplizierten Sach- und Fachfragen der Naturwissenschaft und Technik begegnet. Vielmehr ist es das Gewicht der Problematik und die Orientierungskraft der Problemerörterung, die zu der Prognose Anlaß gibt: Die große Rezeption seiner Zukunftsethik liegt noch vor uns.


Jahrgang 5/1998 Seite 111



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