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Frankemölle, Hubert

Matthäuskommentar I und II

Patmos Verlag, Düsseldorf 1994 und 1997. 332 bzw. 569 Seiten.

Die formale Gliederung des Kommentarwerks: Jedes Kapitel hat eine Übersichtspassage und eine Einzelversauslegung. Die Versziffern sind fett gedruckt und entsprechen dem Bibeltext. Am Ende eines jeweiligen Abschnitts findet sich ein Resümee.

Ein Muster der bibelorientierten Auffassung, die der Leser des MtEv. gemäß Frankemölle gewinnen soll, ist z. B. das Verständnis/Verstehen des Zeichen des Jona (12,38-45; vgl. 27,63). Jesu Grab und Auferstehung wollen als Zeichen Sinnesänderung bewirken. „Die Anwesenheit Jesu“ im Grab und seine Errettung/Auferweckung durch Gott ist das von „Jesus“ angekündigte Zeichen Gottes für dieses „Geschlecht“, das „Jesus“ als Immanuel ablehnt. Dies ist der bei allen im MtEv vorkommenden Leserlenkungen theologisch höchstgewichtete Ausgangspunkt, auf den hinzuweisen der Kommentator H. F. nicht ermüdet: die Immanuel-Aussage (Mt 1,23).

Von diesem Ausgangspunkt her formiert sich im Leser, sei es der zum MtEv zeitgenössische, sei es der heutige, eine kontinuierliche Kenntnis und ein Verständnis jeweils neuer Mitteilungen. Die neuen Mitteilungen, die beim Abschildern des MtEv, dem „Buch der Geschichte Jesu Christi“, vom Autor Mt herangebracht werden, stehen nicht allein als Tatsachen aus der Biographie Jesu — das gibt es ja auch — vor Augen, sondern geraten ins Licht der Kenntnisse bestimmter Evangeliums-Statements, wie zuvörderst der Immanuel-Aussage (1,23), erhellen sich aber auch im Rückgriff auf die jüdisch/hebräische Bibelkenntnis bei den zu Mt zeitgenössischen Erstlesern wie allen potentiell nachfolgenden Lesern. Für das MtEv ist in Jesus der Gott epiphaniert (Immanu-el, mit uns ist Gott). Dieses Glaubensbekenntnis einer hohen Christologie, der Selbsterschließung Gottes in Jesus von Nazaret (himmlische Genealogie), steht zusammen mit den Angaben der irdischen Genealogie. Die eine interpretiert die andere im Verfolg des Kap. 1.

Kap. 2 lenkt den Blick auf die universale, d. h. die Grenzen Israels sprengende Rolle des Jesus-Immanuel. Die mt Täufer-Zeichnung (Kap. 3) rückt, gegen alle anderslautenden Auskünfte der Literatur bisher, Johannes in den Basileia-Bereich des Immanuel. Keine Rede davon, daß der eine den im Weltgericht strafenden Gott, der andere den liebenden Gott verkündet hätte, vielmehr sind beide mit der Verkündigung der Basileia beschäftigt, denn der Täufer ist der Wegbereiter des Immanuel. Der wahre Sohn Gottes, Jesus, (Kap. 4) nimmt den Weg ins heidnische Land und manifestiert dadurch seine Bedeutung weiter, „für Israel und zugleich für alle Völker“ (I,194). Im Vorgriff (das gehört auch zur Methode einer leserorientierten Evangeliumslektüre) auf die fünf großen Redekompositionen (5-7; 10; 13; 18; 23-25) des Mt fällt in Mt 4,17 der Begriff „Reich der Himmeln“. Dieser Begriff hält die fünf großen mt Redekompositionen thematisch zusammen (I, 96); sie sind außerdem auf die eschatologische Perspektive hin orientiert, so wie die letzte (23-25) als ganze eschatologische Rede ist.

Kap. 5 bis Kap. 7 ist die „Lehre auf dem Berg“. Frankemölle lehnt die Bezeichnung „Bergpredigt“ ab, ebenso in ihr die Bezeichnung Gegen-(Anti-) Setzung, verstanden als Anti-Thesen. Antithetisches Reden ist ein allgemeiner Topos der biblischen Weisheitsliteratur, deren Einfluß besonders auf Kap. 6 und 7 nicht zuletzt D. Zeller (Mahnsprüche) herausgestellt hat. Die eigentliche Scheidung, und wenn man so will, Entgegensetzung wird bei denen vollzogen, die Täter des Willens Gottes sind; dieses Kriterium ist auch auf Jesu Jünger angewandt.

Kap. 8 und 9, die Praxis des Immanuel gegenüber der voraufgegangenen „Lehre“, zeigt an Erweissituationen, wie der Akteur aller Wunder-Erzählungen, der Jesus Immanuel, zu begreifen ist: die Heilung der von Krankheitsdämonen Besessenen ruft unterschiedliche Reaktionen bei den Augenzeugen hervor. Wenn bei denen nicht ein „disclosure“-Erlebnis, eine Erschließungssituation, statthat (Wim de Pater), kommt es zu einer gespaltenen Reaktion des Gottesvolkes Israel auf die Wunder Jesu (I, 299). Wunder sind nicht „eindeutige“ Beweise von Jesu Göttlichkeit (ebd.), weil unterschiedliche Reaktionen auf sie berichtet sind und diesen vom Ev stattgegeben wird (vgl. die Pharisäer 9,3.11 und die an der Lebensform Jesu partizipierenden Jünger Jesu z. Z. des MtEv).

In Kap. 10 erfolgt die Unterweisung der Boten der Basileia, in Kap. 11-12 sind unterschiedliche Reaktionen auf „Jesu“ Wirken vermeldet.

In Kap. 13, dem Zentrum des MtEv, verlautet die Rede über die Mysterien der Herrschaft/Wirklichkeit Gottes. Die neutestamentlichen Theologen wollen, wie dies bei Mt an der Zweiteilung des Kap. in eine Gleichnisrede zu Volk und Jünger und in eine zu den Jüngern allein, gemäß Frankemölle, sichtbar wird, nie „absolut christologisch, sondern immer theozentrisch“ reden: an Gottes Handeln in Jesus als dem Immanuel — analog zu den Exorzismen — ist diese Leserlenkung manifest.

Die durch ein disclosure-Erlebnis „aufgeschlossenen“ Täter des „Willens meines Vaters“ sagen und tun, in Anerkenntnis des Herrn Jesus (7,21), was in der Basileia, der Wirklichkeit Gottes, gilt. Die anderen bleiben draußen (13,42). Kap. 14: Der Tod des Propheten Johannes d. T. spielt die Ahnung herein, welches Schicksal „Jesus“ einmal haben wird, d. h. das Schicksal aller von JHWH zu Israel gesandten Propheten: man vgl. dies im Vorgriff auf 17,12, 21,33-46, 22,2-6 und 23,29-39.

Kap. 15 setzt die Themen von Kap. 14 „Jesus“ und die Kranken, die Volksscharen, Pharisäer und die Jünger fort, wobei die Vorlage Mk m. E. am deutlichsten erkennbar wird in der Beibehaltung von zwei Speisungserzählungen, freilich in der für das MtEv charakteristischen Perspektive: „Jesus“ ist Brotkönig. Schließlich ist die in Kap. 2 gezeichnete universale Linie auch mit der heidnischen Frau durchgehalten. „Wer — wie die heidnische Frau — die exklusive Sendung Jesu‘ als Immanuel an Israel unangefochten akzeptiert, muß deswegen nicht seine soteriologische Bedeutsamkeit für die Menschen aus den Völkern negieren“ (II, 208).

In Kap. 16 erfolgt die erste große Zäsur bezüglich des gesamten MtEv. Mit der Ankündigung von Leiden, Tod und Auferweckung sind die Ereignisse in Judäa und Jerusalem eingeläutet, der Wechsel von Galiläa nach dort erfolgt. Das ambivalente Jünger- und Petrusbild sollte aufgrund der scharfen Antithese in 16,21-23 zu 16,13-19 „allen Glorifizierungen in der Rezeptionsgeschichte gegenüber“ zu nüchterner Lektüre gemahnen. Dennoch hält Frankemölle fest: „der hier selig gepriesene Simon Petrus soll in seiner Felsenfunktion für die Kirche offensichtlich nicht als historisch einmalige Figur gedacht werden“ (II, 222).

In Kap. 17 ist „Jesus“ als der eschatologische Offenbarer geschaut, weder nur als Mose redivivus noch als Elija redivivus, sondern „im Kontext der hohen mt Christologie — die Epiphanie Gottes selbst“ (II, 237).

Kap. 18 behandelt das geschwisterliche Verhalten in der Basileia, wobei die Konzeption von der Binde- und Lösegewalt (durch Petrus 16,19 bzw. die Gemeinde 18,18) das angemessene Verständnis des Textes über die Kirchenzucht und über die Exkommunikationsregel verbietet, die Ausschließung „exklusiv/rechtlich (zu verstehen), sondern nur kontrastiv und metaphorisch“ (II, 258).

Nach Kap. 19, mit Jüngerunterweisungen zu Ehe, Ehescheidung, Ehelosigkeit, zu „Herrschaft der Himmel“, Besitzverzicht und einer mißlungenen Berufung, und Kap. 20 (u. a. Gleichnis vom gütigen Arbeitsherrn) werden in Kap. 21-22 „Jesu“ Auseinandersetzungen in Jerusalem unter dem Gesichtspunkt der Legitimität des Anspruchs und der Vollmacht Jesu Immanuel thematisiert (II, 304). Erstmals im MtEv (21,23) werden die „Hohenpriester und Ältesten des Volkes“, sonst nach biblischen Vorgaben die Repräsentanten des Volkes Israel, von den Volksmengen (Israels) negativ abgehoben. Die letztgenannten sind von Anfang an positiv zu „Jesus“ und Johannes dem Täufer eingestellt. Greift man in der Lektüre voraus, sind die „Hohenpriester und Ältesten die eigentlichen Akteure, die (vgl. weiter 27,3.12.20; 28,11 f.) für den Tod Jesu und für das Gerücht, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen, als verantwortlich geschildert werden“ (II, 321). Die Gleichnisse von den ungleichen Söhnen, von den Winzern (Weinbergpächtern) und vom königlichen Gastmahl warfen in der Vergangenheit die Frage auf, ob ein Sukzessionsmodell gelehrt ist und also gezeigt werden soll, „wie Israel sein Heil verlor“, oder ob, wofür der Vf. plädiert, „im Kontext der Rezeption der Immanuel-Aussage von 1,23 aus Jes 7,14 und 8,8.10 zunächst an Jes 8,14 f zu erinnern“ ist. Der Gerichtsherr dort ist JHWH; im MtEv wird in 21,43 f. von „Jesus“ festgestellt, daß einem Volk das Reich Gottes gegeben wird und „es euch weggenommen“ wird.

Die fraglos im Gefolge der deuteronomistischen Theologie kollektive Deutung von Verstockung, Bundesbruch und folgender Strafe, wird im Mt Ev individualisiert. Dann aber sind die „Früchtebringer“ alle Positiven, auch Israel. „Die Geschichte Gottes mit dem ganzen Volk Israel ist keineswegs beendet“ (vgl. 10,5 f. 23; 28,18). Die „Hochzeit“ ist gemäß 22,7 nicht hinfällig. Die Strafe Gottes ist zwar Strafe, aber kein endgültiges Aus für die Tatwilligen in der Basileia.

Die große Gerichtsrede gegen Israel und Kirche (Kap. 23-25) sichert einmal mehr die Erkenntnis, daß Gottes Bemühung um Israel keineswegs ihr Ende gefunden hat, „da das Jüngste Gericht sowohl Israel als auch der Kirche (21,44; 22,10-13) noch bevorsteht“ (II, 363). Wo im Kap. 23 israelkritische Töne angeschlagen werden, sieht Frankemölle die Auseinandersetzung dokumentiert, daß pharisäisches Judentum trotz der Zerstörung des Tempels die jüdische Identität wahren will, die Jesus-Anhänger desgleichen „auf der Suche nach christlicher Identität waren“ (II, 381). Dabei wird das Fehlverhalten individualisiert und auf die Führer bestimmter Gruppen im Judentum hin konzentriert; ein generelles Verwerfungsurteil über Israel oder über „die“ Juden oder „das Judentum“ erfolgt nicht. Dies gilt für die Rede über die Zerstörung Jerusalems, für die Rede über das Ende der Welt und für die Zwischenzeit. Das Kommen des Menschensohns zu Gericht und Heil thematisieren drei Gleichnisse über die Stetsbereitschaft und das „Jesus“-Gleichnis vom Endgericht über alle Völker. Die berühmte Endgericht-Rede ist auch eine Endheil-Rede, wenn nämlich die Jünger, Israel und alle Nichtjuden und Nichtchristen der Aufforderung „Jesu“, ihm, gemäß seiner Tora, nachzufolgen, entsprechen (II,427).

Die von Frankemölle gefundene „Partitur“, d. h. die Kompositions-Struktur des MtEv hat zwei narrative Teile (Vorgeschichte, Passions- und Auferweckungsgeschichte) und fünf Reden. Das Zentrum ist Kap. 13. Ein Blick auf diese Partitur, auch in ihren Unterteilen, ist als Leserlenkung stets bedeutsam. Dies ist gerade am Beginn des zweiten narrativen Großblocks wichtig. Dort, in der ältesten Tradition (wenn man autororientiert urteilt), sind Rückbezüge zum Zentrum und zu den anderen Partitur-Bestandteilen stets angezeigt und für ein kontextuelles „Hin- und Herlesen“ ergiebig. So sind Formulierungen von Frankemölle, wie z. B. „die narrativen Voraussetzungen für ,Jesu‘ Tod“ nicht lediglich das, was man historisch-kritisch über Abendmahl, Verhöre und die Hinrichtung Jesu ausfindig machen kann. Eine Feststellung wie die, der Text sei „nicht juristisch und historisch, sondern kerygmatisch orientiert“ (II, 482), muß man bezüglich des MtEv ernst nehmen. Dann allerdings überrascht nicht, daß der vorsitzende Hohepriester des Synhedrions ein christliches Bekenntnis formuliert (26,63b): „Bist du der Messias, der Sohn Gottes?“ Daß Pilatus, ganz im Gegensatz zu jüdischen Interessen am Tod Jesu seine eigenen Gründe zur Verurteilung Jesu gehabt hat, spricht nicht dagegen, daß „ein solches Zusammenwirken jüdischer und römischer Rechtsfindung“ möglich war (II, 477). Doch ist die „Schuldzuweisung an die jüdische Seite (im MtEv) auf die Spitze getrieben“ mit der entgegengesetzten Tendenz, „auf römischer Seite habe kein Zweifel bestanden“ (P. Fiedler ebd.).

Was dem Leser des (kerygmatisch redenden) MtEv auffällt, ist, daß sich die Kommunikation zwischen Pilatus und „Jesus“ als mißglückt darstellt — m. E. vgl. man auch das JohEv. Mit wirklichen Aufrührern hat sonst der römische Staat kurzen Prozeß gemacht. Das MtEv sieht im römischen Prozeß den Verurteilungsgrund in Jesu messianisch-christologischem Anspruch. In historisch-kritischem Sinn gibt die MtEv-Inszenierung der Verurteilung Jesu, der Judas-Legende über seinen Selbstmord, der Barabbas-Freilassung u. a. keine Handhabe, als Protokolle genommen zu werden. Jesus hat, historisch gesehen, gemäß Frankemölle, den Messias-Anspruch nicht erhoben.

Über das „Unheilskollektiv“ der Juden in 27,25 braucht nach allem nichts mehr gesagt zu werden — ein Anhalt im MtEv fehlt. Damit ist aber die christliche Schuldgeschichte, die Juden seien „Gottesmörder“, nicht vom Tisch. „Jesus“ bleibt allem Spott und aller Pein gegenüber im MtEv stumm. Der Haftpunkt dafür ist das Schicksal als leidender Gerechter und besonders als Gottesknecht (Jes 53), da bei „Jesus“ auch der stellvertretende Tod „für viele“ — alle Menschen – statthat (II, 501).

Die Engelsbotschaft von der Auferweckung „Jesu“ ist kontextuell vielfach vorbereitet (16,21; 17,22; 20,18; 27,63.64). Die dem Leser (und also Glaubenden) durch das MtEv vorgelegten Elemente, die glaubensbegründend sind und neue Nachfolge hinter der Katastrophe und der radikalen Krise der Jünger ermöglichen, sind neue Erfahrungen durch Erscheinungen (II, 525). Darauf legt Frankemölle (mit Hans Kessler) Wert und kritisiert die exegetischen Positionen, die, grob gesprochen, ohne einen neuen Offenbarungsimpuls auskommen. Der Epilog des MtEv (28,16-20) hat bei der Kommentierung Achtergewicht: „Jesus“ durchbricht alle Grenzen temporaler und topografischer Art, wenn er seinen Jüngern alle Vollmacht für alle Völker alle Tage zusichert. Das umfangreiche Kommentarwerk des Paderborner Exegeten Frankemölle ist eine reife Frucht seiner vielfältigen Studien und Publikationen, die hier nicht genannt werden können. Obwohl es an Mt-Kommentaren nicht fehlt, stellt dieser doch einen Neuentwurf dar, auch in sprachwissenschaftlicher Hinsicht (Rezeptiontheorie). Die Interpretationsmöglichkeit der anti-judaistischen Passagen im NT hat eine neue Variante bekommen. Für eine zweite Auflage wünscht man sich Register und Vereinheitlichung der Psalmen-Zählung.

Alwin Renker


Jahrgang 5/1998 Seite 118



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