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Steiger, Sebastian

Die Kinder von Schloß La Hille

Brunnen-Verlag, Basel und Gießen 1992. 379 Seiten.

„1943: Am Fuß der französischen Pyrenäen können viele jüdische Kinder unter dramatischen Umständen vor der Deportation in die Vernichtungslager gerettet werden. Aber nicht alle ...“ Diese Notiz auf dem Einband von Sebastian Steigers Buch bringt das Leben in der Rotkreuz-Kolonie La Hille auf den kürzesten Nenner. Der Primarlehrer Sebastian Steiger, 1918 in Oltingen, im Kanton Baselland, geboren, arbeitete von 1943-1945 als freiwilliger Mitarbeiter bei der Kinderhilfe des Roten Kreuzes. Mehr als vierzig Jahre später begann er über seine Tätigkeit in Frankreich während der deutschen Besatzungszeit zu schreiben. Entstanden ist daraus ein Bericht über das Leben im Kinderheim La Hille, einem Schloß im südfranzösischen Departement Ariège, während der beiden letzten Kriegsjahre. Ohne literarischen Anspruch, in einem bewußt unprätentiösen Stil, beschreibt er das Personal des Heims, die ungefähr hundert — zumeist jüdischen — Kinder deutscher und österreichischer Herkunft im Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren und den Alltag der Kolonie mit seinen kleinen Begebnissen. Da sind all die kleinen und großen Nöte des Kriegsalltags: der ständige Hunger, die Kälte, das Fehlen von einfachsten Gebrauchsgegenständen, die durch hygienischen und nahrungsbedingten Mangel verursachten Krankheiten, die gelungenen und mißlungenen Fluchtversuche in die Schweiz, die ständige Gefahr, der Tod.

Dennoch ist die Atmosphäre in der Kinderkolonie geprägt von Solidarität, Kreativität und — soweit das die Umstände zuließen — von Fröhlichkeit. Die Aufzeichnungen Steigers sind von einem ausgesprochen dokumentarischen Bemühen geleitet, davon zeugen nicht nur die zahlreichen Photos und die im Anhang angeführte Liste zum späteren Schicksal der hundert jüdischen Kinder von La Hille, sondern auch das explizite Bekenntnis, jedem Kind mit seiner Geschichte gerecht werden zu wollen. Als Zielpublikum für „Die Kinder von Schloß La Hille“ ist eine jugendliche Leserschaft anvisiert, welche sich mit dem Geschick der ebenfalls jugendlichen Protagonisten besonders identifizieren kann. Nicht zuletzt bringen die eingestreuten Tagebuchauszüge und Briefe die beschriebenen Personen näher. Da sind beispielsweise die Ausschnitte aus den Aufzeichnungen von Edith Goldapper, welche in ihrer klaren und ansprechenden Art kaum dem Tagebuch einer Anne Frank nachstehen. Oder da ist das tragische Los der kleinen, orthodox erzogenen Rosa Goldmark, die die strengen Maßstäbe ihrer Erziehung in der fremden Umgebung nicht einhalten kann und daran innerlich zerbricht, und schließlich mittels selbst auferlegten Hungerns stirbt.

In die Aufzeichnungen Steigers fließt eine tiefe Liebe zu den Kindern ein, die keinen Zweifel darüber offen läßt, daß hier ein Humanist im Sinne Johann Heinrich Pestalozzis oder Henri Dunants schreibt. Entsprechend fällt auch die Kritik an der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aus. Von den elf Kindern von La Hille, welche deportiert und getötet wurden — ihnen ist Steigers Buch gewidmet —, wurde fast die Hälfte an der Schweizer Grenze in den sicheren Tod geschickt, eine Tatsache, die in unüberbietbar zynischem Kontrast zu den Vorstellungen der Kinder von der Schweiz als ,gelobtem Land‘ steht. Steiger verurteilt sachlich fundiert die Behörden, sowohl den Bundesrat als auch die Leitung des Roten Kreuzes in ihrer allzu servilen Haltung den Nazis gegenüber. Gegen eine schweizerische Kollektivschuld spricht der Einsatz zahlreicher Einzelpersonen. Der nachhaltigste Eindruck der „Kinder von Schloß La Hille“ besteht vielleicht darin, wie sehr jeder und jede in einer Kriegssituation in Angst verstrickt nur an die eigene kleine Welt denkt. Und so erscheinen die jüdischen Kinder der Rotkreuzkolonie nicht nur von den Schweizer Behörden im Stich gelassen, sondern auch von ihrer unmittelbaren Umgebung vergessen. Gegen eine solche Haltung steht Steigers Einsatz vor fünfzig Jahren ebenso wie sein Buch heute. Das Buch ist zwar nicht mehr brandneu, doch von größter Aktualität, und daß es noch vor der Zeit geschrieben wurde, in der hierzulande die Diskussion über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg dermaßen entbrannt ist, macht es gerade jetzt um so lesenswerter.

Gabrielle Oberhänsli-Widmer


Jahrgang 5/1998 Seite 134



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