Die Weltreligionen. Patmos Verlag, Düsseldorf 1996. 464 Seiten.
Werner Trutwin, bekannt durch viele Veröffentlichungen aus dem Bereich der Religionspädagogik, aus dem Philosophie- und Ethikunterricht, hat mit seinem Buch zu den Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Religionen in der heutigen Welt) ein äußerst kompetentes Werk geschaffen, das einen basisorientierten hermeneutischen Zugang zu den genannten Religionsgemeinschaften und einen breiten Verstehenshorizont eröffnet. Jedes Kapitel gliedert sich durch gemeinsame Parameter: a) der Ursprung der Religionsgemeinschaft, b) Gottesverständnis, c) Anthropologie, d) Ethische Grundlagen, e) Lebensalltag und religiöse Alltagspraxis, f) Abspaltungen und Untergemeinschaften, g) Probleme der Gegenwart, h) Beziehungen zum Christentum.
Das Buch hält, was es verspricht: verläßliche Informationen zu bieten und in die wesentlichen religiösen Fragen nach Leben und Tod, Glück und Leid, Gut und Böse, Gott und Mensch, Sinn des Lebens einzuführen. Besonders das Kapitel über das Judentum ist von der Liebe zu dieser Religionsgemeinschaft geprägt und von dem Versuch, christliche Vorurteile und Verurteilungen abzubauen. So wird z. B. Tora als gute Lebensweisung charakterisiert und nicht mit dem engen Begriff „Gesetz“ umschrieben. Auch ist sich der Autor der verhängnisvollen Beziehung des Christentums zum Judentum bewußt und stellt sich der schrecklichen Geschichte der Judenverfolgung. Spannend und eindrücklich sind die kurzen Beschreibungen wichtiger Persönlichkeiten (z. B. Leo Baeck) und Grundwahrheiten des Judentums. Kleinere Fehler, wie das Datum des Trienter Prozesses (1475, nicht 1457) um den Hostienfrevel lassen sich schnell beheben. In der Regel sind unverbrauchte, neue Bilder, Graphiken und Texte verwendet worden, was als äußerst lesefreundlich bezeichnet werden kann. Im Kapitel über das Christentum wird die römisch-katholische Sicht deutlich: So sind aus protestantischem Selbstverständnis die Darstellungen Luthers und Calvins zu korrigieren. Leider fehlt „der“ Ökumeniker der Reformationszeit: Philipp Melanchthon (1497-1560), dem die Kirche insgesamt Wesentliches zu verdanken hat.
Auch im Kapitel Islam wird die Intention des Autors deutlich, Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften in Deutschland zu erreichen und den anderen Weg zum Licht zu tolerieren und gleichzeitig so viel wie möglich an Authentizität in die Darstellung einfließen zu lassen. Die für uns Europäer so völlig andere und verwirrende Welt der ostasiatischen Religionen, Hinduismus (als Summe aller hinduistischen Strömungen) und Buddhismus, wird durch Trutwins Diktion elementarisiert und so nachvollziehbar. Gandhis und Ramakrishnas Reformen werden gewürdigt und in den Blick des Interesses gebracht. Ein eigener Abschnitt ist der Rolle des Christentums in der heutigen indischen Gesellschaft gewidmet. Deutlich werden an die hinduistische Religionsgemeinschaft aus christlicher Sicht und aus hinduistischer Perspektive an die Christen Fragen gestellt, die einerseits das Gemeinsame betonen, andererseits aber die Differenzen nicht wegreden. Eine Schwierigkeit, die sich im Abschnitt über den Buddhismus bemerkbar macht: Christentum und Buddhismus sind fast nicht vergleichbar, gleichzeitig sind aber beide Religionssysteme als seriöse Versuche zu sehen, Antworten auf menschliche Grundfragen zu geben: „Vielleicht wird Buddha der Letzte sein, mit dem das Christentum sich auseinanderzusetzen hat. Was er christlich bedeutet, hat noch keiner gesagt“ (Romano Guardini, 445).
Werner Trutwin ist mit seinem umfangreichen Werk ein Wurf gelungen, der die positive Funktion der Religion in der modernen Lebenswelt würdigt, Orientierung für die Praxis des Lebensalltags zu bieten, ohne diesen zu überhöhen oder abzuwerten. Trauer muß man gemeinsam mit dem Autor empfinden, wenn Religion ihr Proprium verfehlt und von anderen Interessen und im Dienst anderer korrumpiert wird. Der Weg zum Frieden zwischen den Religionen und durch Religion beginnt mit dem Verstehen und Stehenlassen der fremden Religionsgemeinschaft: Nur in der Entfaltung und im Aushalten von Pluralität kann es Freiheit und Besinnung auf das humane Potential jeder Weltreligion geben. Das Buch sollte von möglichst vielen Lehrenden kritisch genutzt werden und in möglichst vielen Handbibliotheken präsent sein.
Wilhelm Schwendemann
Jahrgang 5/1998 Seite 136