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Wolkowicz, Shlomo

Das Grab bei Zloczow

Geschichte meines Überlebens, Galizien 1939-1945. Wichern-Verlag, Berlin 1996. 159 Seiten.

„... warum wir Juden in Europa nicht gekämpft, warum wir uns nicht gegen die Deutschen organisiert hätten?“ (153). Diese Frage beantwortet Shlomo Wolkowicz mit den Worten: „Ich verstand, was es heißt, einem geladenen Gewehr gegenüberzustehen und zwischen Leben und Tod entscheiden zu müssen“ (155). Diese Problematik der Schoa wurde auch anderweitig thematisiert. Wäre damit die „ewige Unerklärbarkeit von Auschwitz“ das letzte Wort dazu? Shlomo Wolkowicz hat jedoch die Schoa als schicksalhaftes Unheil nicht anerkennen wollen, sondern für sein Leben gekämpft. Für den Gebietsunkundigen ist es ratsam, einen guten Atlas hinzuzuziehen, der jenes Ostgalizien darstellt, das damals in Südpolen lag und heute zur Südukraine gehört: Jagielnica, wo seine Familie lebte, die Eltern Rubin und Bella Wolkowicz, seine Schwester Frieda und sein kleiner Bruder Moses, und wo er selbst 1924 geboren wurde; die Großstadt Lemberg, wo er das Gymnasium besuchte; schließlich unweit von Lemberg Zloczow, das beim Einzug der NS-Truppen und der Gestapo für Tausende von Juden zum Grab wurde und dem Buch den Titel gab.

Ostgalizien wird von 1939 an in die Zange genommen, zuerst von der Sowjetarmee, dann von den Nazisoldaten. Die Kommunisten wollten die Bevölkerung umerziehen, die Nazis den jüdischen Teil vernichten. Aber Shlomo Wolkowicz will sich wehren und sein Leben, wenn nötig, so teuer wie möglich verkaufen. Als Shlomo 1941 mit Freunden innerhalb der deutsch-sowjetischen Front von Lemberg fliehend nach Zloczow gelangt, wird er von der SS verhaftet und zur Burg Zamek geführt, wo in einer riesigen Grube Leichen liegen. Zum Auftakt der Vernichtungsaktionen werden scharenweise jüdische Männer zum „Grab“ getrieben, zur Säuberung der Leichen in die Grube befohlen und schließlich mit Gewehrsalven selbst ermordet. Shlomo wird unter einer Masse von Leichen begraben, kann sich aber in der Nacht befreien und zu seinen Verwandten zurückkehren, die den Totgeglaubten wie ein Gespenst mit Schrecken empfangen.

Als Pole getarnt kehrt er nach Jagielnica zurück. Er wird von der Polizei gefaßt, von einem Klassenkameraden als Jude verraten, geschunden und eingesperrt und entflieht von neuem zu seiner Familie. Der österreichische Leiter einer Tabakfabrik, Ludwig Semrad und seine Frau Wanda, nehmen die Familie Wolkowicz und andere Juden in ihre Fabrik auf. Aber Shlomo beschließt, sich auf neue Gefahren vorzubereiten. Er lernt Dokumente zu fälschen, besorgt sich einen Revolver und hört über ausländische Sender vom Heranrücken der alliierten Armeen. Kurz vor dem Einmarsch versteckt Shlomo sich und seine Familie im Kanalsystem der Fabrik, bis die Sowjettruppen sie 1944 befreien. Er gelangt über Budapest nach Österreich und mit Hilfe der Fluchtorganisation „Bricha“ nach Israel:

„... und an einem Samstagmorgen, dem 3. Mai 1949, sahen wir den Umriß des Berges Karmel aus dem Meer aufsteigen. Wir waren erschüttert und glücklich. Wir konnten kaum glauben, daß wir nach so vielen Jahren der Mühsal und des Leidens, nach einem Leben auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und Verzweiflung nun das Panorama Haifas sahen, das uns eine Zukunft der Freiheit verhieß“ (141).

Der Text des Buches ist durch Fotos, Dokumente und Skizzen illustriert. Der Autor war nach dem Erlebten zunächst unversöhnlich und wollte deutsche Menschen und die Stätten seiner Jugend nicht wiedersehen. Als es aber dazu kam, stellte er fest, daß es inzwischen ein anderes Deutschland gab. Zwei Jurastudenten, mit denen Shlomo Wolkowicz sich bei einem Prozeß gegen Nazi-Verbrecher anfreundete, „repräsentierten für mich eine junge Generation in Deutschland, die einen anderen Weg der Auseinandersetzung mit dem Holocaust gehen wollten ... Es gab auch solche Deutsche“ (148-149).

Bernd Bothe


Jahrgang 5/1998 Seite 137



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