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Michael Brocke
Gershom Scholem: Wissenschaft des Judentums zwischen Berlin und Jerusalem
Als Gershom Scholem im Februar 1982 im 85. Lebensjahr starb, schien es einer fast fünfzig Jahre jüngeren Generation von Judaisten, die Scholem noch als Lehrer in Jerusalem kennenlernen durften, als sei eine ganze Epoche zu Ende gegangen. Sein Tod wurde allgemein als Zäsur für die „Wissenschaft des Judentums“ wahrgenommen. Schließlich war der junge Scholem einer der ersten Lehrer der Universität Jerusalem und nach fast sechzig Jahren der bekannteste und bedeutendste akademische Name Jerusalems und dazu judaistisch weltweit. Wohl gingen in den achtziger Jahren auch gleichaltrige oder um einige Jahre jüngere Jerusalemer Kollegen dahin — Fritz Baer, Ephraim E. Urbach, Jefim Ch. Schirmann —, doch niemand von ihnen kann für eine vergleichbare Breite und Tiefe judaistischer Forschung und ihrer Rezeption stehen oder hatte eine ähnliche wissenschaftliche Originalität und Innovationskraft vorzuweisen. Gershom Scholem bleibt — weit über die Judaistik hinaus — nicht nur für die Wissenschaftsgeschichte, sondern für das jüdische Geistesleben im 20. Jahrhundert von großer Bedeutung. Einer der wichtigsten Repräsentanten jüdischen kulturellen Lebens, verkörperte er die „deutsch-jüdische Symbiose“, die er so vehement ablehnte, und doch meisterlich darzustellen wußte. Auch dies mag ein Grund dafür sein, daß das Interesse an Leben und Werk in der nichtjüdischen — vor allem der deutschsprachigen –— intellektuellen Szene, die an deutsch-jüdischer Geistes- und Kulturgeschichte interessiert ist, anhaltend groß bleibt. Seit seinem Ableben (20.2.1982) ist kein Jahr vergangen, in dem nicht Arbeiten aus dem Nachlaß erschienen, Bücher übersetzt und neu herausgegeben, Symposien abgehalten und zahlreiche Arbeiten über Leben und Werk dieser respekt- aber auch furchteinflößenden Gelehrtenpersönlichkeit veröffentlicht wurden. Ein nicht geringer Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit hat den Weg zu breiteren Leserschichten gefunden. Seine großen Synthesen werden bis ins Taschenbuch hinein des öfteren nachgedruckt.1 Für die deutschsprachigen jüdischen wie nichtjüdischen Leser bleibt neben den zugänglichen wissenschaftlichen Darstellungen vor allem Scholems tiefe Verwurzelung in der deutschen Sprache und den intellektuellen Strömungen der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts wichtig und lehrreich. Die deutsche Sprache schlägt sich bei Scholem in eigentümlicher Weise nieder: gefärbt durch das berlinisch deutsch-jüdische Milieu und geschärft durch seine stets diaspora- und deutschkritische Haltung, von der die Ablehnung jener „Symbiose“ nur ein Element war. Gerade weil sein Werk gleichzeitig die Spuren solcher Verwurzelung und Zurückweisung trägt, fordert es zur Deutung heraus. Es präsentiert sich überreich an Aufschlüssen, stellt aber auch vielerlei neue Fragen zum Verständnis der spezifisch deutsch-jüdischen und deutsch-zionistischen Geschichte und zur Profilierung und Mitgestaltung jüdischer Geistesgeschichte der Moderne durch Scholem selbst. Gerhard (Gershom) Scholem wurde am 5. Dezember 1897 in eine wirtschaftlich erfolgreiche, aus dem Kleinbürgertum in den Mittelstand aufgestiegene Berliner Druckereibesitzer-Familie hineingeboren.2 In doppelter Opposition zum Elternhaus und zum assimilierten Judentum suchte er sich früh Lehrer aus den Kreisen der Orthodoxie und des Zionismus.3 Er trat der zionistischen Jugendgruppe Jung Juda bei, war aber auch ein halbes Jahr Mitglied der orthodoxen und später deutlich anti-zionistischen Agudat Israel. Bei Isaak Bleichrode, dem Rabbiner einer orthodoxen Privatsynagoge, begann er 1913 den Talmud zu lesen. Als Student bat er in München den orthodoxen Rabbi-ner Heinrich Ehrentreu, ihn in seine Talmud-Studiengruppe aufzunehmen. In seiner Autobiographie schreibt Scholem: „Die Rabbiner Bleichrode und Ehrentreu waren die beiden Lehrer meiner Jugend, denen ich die dankbarste Erinnerung bewahre.“4 Im Jahr 1915 wurde Scholem wegen seiner zionistischen Ablehnung des Krieges von der Schule verwiesen. Als Externer legte er noch im selben Jahr das Abitur ab. Zwei Jahre später warf ihn der Vater „wegen Zionismus“ aus dem Elternhaus. Scholem fand eine neue Bleibe in der Pension Struck, wo einige seiner ostjüdischen Freunde wohnten, so Salman Rubaschow (Schazar), der spätere dritte Präsident des Staates Israel. Orthodoxe, Zionisten und ostjüdische Intellektuelle waren Scholems Lehrer und Mentoren. Doch als er die Kabbala entdeckt, ist er auf sich selbst verwiesen. Scholem greift zu Molitors Philosophie der Geschichte oder über die Tradition, wohl wissend, daß er es mit einem stark christlich geprägten Werk zu tun hat. Mit seiner Absicht, eine Edition des Buches Bahir mit Übersetzung und Kommentar als Dissertation einzureichen, wendet er sich in München an den katholischen Professor für mittelalterliche Philosophie, Clemens Bäumker, und an den protestantischen Professor für Semitistik, Fritz Hommel, die ihn beide wohlwollend aufnehmen und unterstützen. Scholem hat nie an der Hochschule Wissenschaft des Judentums studiert. Die Wahl seiner Lehrer verdeutlicht, wie groß und verschiedenartig die Distanzen sind, die er zwischen sich und die Wissenschaft des Judentums legt.5 Unter ihren Wegen fand er keinen, der zum Verständnis der Kabbala und der anarchischen Momente in der jüdischen Geschichte geführt hätte. Anders verhielt es sich mit Orthodoxen und Zionisten: Bleichrode besaß einen Sohar und war bereit, wenn auch nicht befähigt, Kabbala zu unterrichten.6 Auch Rubaschow befaßte sich mit dem Sabbatianismus und mit der Wissenschaft des Judentums.7 Scholems anti-rabbinischer Impetus ist zunächst vor allem anti-assimilatorisch und richtet sich darum nicht sogleich auch gegen die Orthodoxie. Doch wenn die Kabbala zum Prüfstein wird, erscheint schließlich auch die Orthodoxie befangen in den bürgerlichen Ordnungen der rabbinischen Institution: den Versuch, kabbalistische Texte „aufzuschließen und verständlich zu machen“, würden die Rabbiner-Seminare — ob orthodox oder liberal — „ungern“ sehen.8 Scholem vergrub sich auch nach seiner Einwanderung nach Palästina im Jahr 1923 in die Welt der hebräischen Bücher und las, eigener Auskunft zufolge, alle jene Schriften, die kein Gelehrter vor ihm je gelesen hatte — eine Anspielung auf sein Eindringen in die immensen Bücher- und Manuskriptschätze der Kabbala, die von der Wissenschaft des Judentums, angeblich oder wirklich, vernachlässigt, ja radikal beiseite geschoben und als irrational bekämpft oder ignoriert worden seien. Unmöglich, hier Scholems Leistungen auf den verschiedenen, zuvor kaum je bestellten Feldern der Erforschung der jüdischen Mystik und Esoterik auch nur knapp Revue passieren zu lassen. Scholem begründete de facto allein eine neue Disziplin innerhalb der Judaistik, die zudem dank seiner Wirksamkeit rasch zum Erfolg gedieh und heutzutage eine unverhältnismäßig hohe gelehrte und zudem noch populäre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag. Scholem hat ein großes Programm realisiert. Bibliographische Kärrnerarbeit, groß angelegte Thesen und wache Selbstkritik finden zu einer durchaus harmonischen Ausgewogenheit in seinem immensen Lebenswerk. Die Bibliographie, die ihm zu seinem 80. Geburtstag überreicht wurde, zählt nahezu sechshundert Nummern.9 Die Wissenschaft, die er verändert hat, reflektierte er stets. Er machte sich auch Gedanken über ihre Ursprünge, ihre Leistungen, ihr Scheitern und nicht zuletzt auch über ihr Verhältnis zum Judentum. Dies setzt in Buchbesprechungen ein, kristallisiert sich hier und da in Briefen heraus, findet aber seinen markanten und tief polemischen Ausdruck in einem mit dramatischer Geste entworfenen hebräischen Essay, der erst im letzten Jahr auch deutsch erschienen ist.10 Diese Abrechnung mit den Gründungsvätern der Wissenschaft des Judentums und seinen damaligen Jerusalemer Kollegen — der Aufsatz erschien 1944 — ist nur schwer mit dem deutschsprachigen Vortrag zum selben Thema zusammenzubringen, den Scholem 1959 in London hielt11 und der so ungleich ruhiger, gelassener und uneitler erscheint als der von ihm selbst weiterhin hochgeschätzte Zornesausbruch fünfzehn Jahre zuvor.12 Hinzu kommt ein bisher in der Diskussion nicht beachteter Vortrag im Sommer 1970 in Jerusalem, der in einer Zusammenfassung vorliegt und eher an die Worte des Jahres 1959 erinnert als an die des Jahres 1944. Allerdings gleicht auch die Ausgangsthese des Jahres 1970 seinen Überlegungen zur Wissenschaft des Judentums von 1944: „Jewish Studies (Wissenschaft des Judentums) had evolved from a bitter controversy with traditional Judaism, whose opponents showed evident signs of wanting to put an end to Jewish existence.“13 Scholem begründet diese ungeheuerliche These allerorten mit einem Zitat aus einem Zeitungsnachruf(!) von 1907 auf den Nestor der Wissenschaft des Judentums, Moritz Steinschneider, der mit über neunzig Jahren kurz vor seinem Tod einem jungen Mann gegenüber geäußert habe, die einzige Aufgabe, die noch bliebe, sei es, den Überresten des Judentums — und dabei habe er auf seine reiche Bibliothek gedeutet — ein würdiges Begräbnis zu bereiten.14 Daraus schließt Scholem, die Wissenschaft des Judentums trage nicht nur etwas vom „Hauch des Begräbnisartigen“ an sich, sondern habe sowohl auf die „Liquidation“ (!) als auch auf „Spiritualisierung“ und „Verklärung“ des Judentums hingearbeitet.15 Beide Tendenzen sind nicht gerade dem zuträglich, was man unter lebendigem Judentum versteht, sondern eher Interessen post mortem betreffend. So sehr Scholem die nicht theologisch gebundenen Gründerfiguren Leopold Zunz und Moritz Steinschneider verehrt — zwei extrem fleißige und auch in ihrer Größe einsame Wissenschaftler ohne institutionell-akademische Anbindung, die überhaupt der Wissenschaft des Judentums den Grund gelegt haben —, so sehr kritisiert er sie doch auch als desillusionierte und resignierende Totengräber, um im Scholemschen Bild zu bleiben.16 Seine Grundthese zur Wissenschaft des Judentums zwischen 1820 und 1907 stellt eine schier unglaubliche Pauschalisierung und Überhebung eines die Lebendigkeit des Judentums nur unter zionistisch erneuerten Vorzeichen wahrnehmenden genialen jungen Forschers dar, der seine „Väter“ gefunden hat und mit ihnen ringen muß — „anxiety of influence“ ist hier im Spiel und das Resultat gewiß „a strong misreading“. Scholems Bewunderung für die (antirabbinischen, anti- oder a-theologischen) Meister Zunz und Steinschneider, die echt und groß ist, hindert ihn nicht, höchst ungerecht zu urteilen. Niemand außer ihm hätte sich dergleichen unwidersprochen, ja ungestraft erlauben können, und man sieht auch hieran die nahezu absolute Autorität des großen Gelehrten, die bislang nur in wissenschaftlichen Einzelfragen hier und da angetastet wird, kaum jedoch in ihren so grundsätzlichen historiosophischen Konstruktionen. Scholem warf den Vertretern der Wissenschaft des Judentums Nebenziele vor, die sie daran gehindert hätten, sich dem Judentum in allen seinen, nicht zuletzt auch mystischen, Ausprägungen zuzuwenden: politisch-religiöse Abzweckungen, Anpassungen der jüdischen Kultur und Religion an ihre Zeit, Assimilationswillen und Emanzipationsbestrebungen. Es handelt sich um damals durchaus verständliche und zu billigende Ziele, über die man sich nicht belogen hat und mit denen man keineswegs hinter dem Berg hielt. Zunz hat sein frühes Meisterwerk Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt (1832), das noch in den sechziger Jahren Lehr- und Lernstoff an der Hebräischen Universität in Jerusalem war, verfaßt, um dem preußischen König zu beweisen, daß es keine reformerische Neuerung war, in der Landessprache zu predigen. Welch unabhängige Gelehrsamkeit zeigt sich in diesem Buch, ehe es endlich im 24. Kapitel auf dieses Thema der Gegenwart der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zu sprechen kommt!17 Scholems Kritik vollzieht eine doppelte Volte. Sie setzt gegen die „das Judentum entwirklichende Absicht“18 der Wissenschaft des Judentums den élan vital der Zionisten, doch wo die Wissenschaft des Judentums der Wirklichkeit des jüdischen Lebens zugewandt und verhaftet war, fordert Scholem Sachlichkeit, Nüchternheit und Unparteilichkeit. Damit gerät er nahe an den Begriff der reinen Wissenschaft.19 Jeder Forderung nach reiner Wissenschaft widerspricht allerdings Scholems eigene Einsicht: „... that the work of scholars is essentially based an living contemporary experience“.20 So übt Scholem Kritik an den Vertretern der alten Wissenschaft des Judentums ob ihrer apologetischen Einseitigkeit und an den Vertretern der neuen Wissenschaften des Judentums in Jerusalem ob ihrer nationalistisch überspitzten und darum gleichfalls einseitigen Forschungen. Doch er weiß auch, daß es „wohl ... in einem lebendigen Prozeß gar nicht möglich [ist], sich von solchen Erbschaften über Nacht freizumachen“.21 Allerdings steht die Rede von der „living contemporary experience“ hier in einem ganz anderen Zusammenhang: es handelt sich um eine der wenigen Stellen, an denen Scholem mit Blick auf die Wissenschaft des Judentums auf die Schoa zu sprechen kommt. Eindrücklich geschieht dies in seinem Vortrag von 1959: „Das größte Kräftereservoir, der Nachwuchs, die Hoffnung auf eine enthusiastische Jugend, die von der Idee eines neu zu sehenden jüdischen Gesamtbildes, einer neuen jüdischen Geschichtsschreibung angezogen, sich diesen Aufgaben zuwenden würde, ist in Auschwitz und anderswo geblieben. Es ist müßig, sich darüber Illusionen zu machen.“22 Scholem gehört zur ersten und, vor 1933, einzigen Generation deutsch-jüdischer und zionistischer Judaisten, die die „Wissenschaft des Judentums“ vom deutschen akademischen Antijudaismus und Antisemitismus unbehelligt an einer eigenen, nur jüdischen, dabei aber nicht rabbinisch-theologisch ausgerichteten Institution, eben der Hebräischen Universität, pflegen konnten. Er war in einer ganz neuen, jüdisch noch nicht gekannten Situation, ein freier akademischer Forscher. So konnte er mit der Wissenschaft des Judentums und dem, was in seinen Augen falsch und fehlerhaft war an deren Voraussetzungen und Zielen, radikal abrechnen. Dabei blendete er aus, daß er sein frühes Interesse an der Kabbala gerade dem von ihm so scharf kritisierten Historiker Heinrich Graetz verdankte. Er reflektierte wohl auch kaum, daß sein wissenschaftliches und essayistisches Lebenswerk stets solche Opposition brauchte, damit er der warnende und zürnende Prophet bleiben konnte, als der er frühzeitig begonnen hatte und als der er seinen zeitgenössischen und mehr noch den heutigen Lesern auch interpretatorisch schwer zu knackende Nüsse aufgibt. Scholem hat manchen seiner Vorgänger vorgeworfen, in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu sehr danach zu schielen, was die goyim sagen. Er selbst beeindruckte durch die kühle Nüchternheit und das ganz und gar Unapologetische im Umgang mit Christen und dem Christentum. Er zeigte sich selbstbewußt und respektvoll, wo immer ihm Respekt möglich schien.23 Das Christentum ist für Scholem eine selbstverständliche Gegebenheit der Diaspora, mit der zu leben ist, von der man sich aber auch, will man jüdisch leben und denken, scharf absetzen muß. Mit dieser Forderung wandte sich der junge Scholem vor allem an Franz Rosenzweig. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum verwandelt er in eine innerjüdische Diskussion, in der neben der Religionsphilosophie vor allem die Sprache als das Feld bezeichnet wird, auf dem die Differenz zwischen Judentum und Christentum bedacht und genau entfaltet werden muß. Scholems Kritik an einigen jüdisch-liturgischen Übersetzungen Franz Rosenzweigs, aber auch an der Buber-Rosenzweigschen Bibelübersetzung betrifft das „Kirchliche und dessen Terminologie“: „In dieser erscheint ein Allerhöchstes, Strenges und Eindeutiges an Jüdischem eliminiert und in ihr ist das eigentlich Moralische, das „haznea lekhet“ [das Keusche, Bescheidene] ... unserer Sprache aufgelöst, und ... verwandelt in die nüancenreiche Buntheit und dämonische Zweideutigkeit der Terminologie des Heils.“24 Die Schärfe solcher Formulierungen verdankt sich der Intensität des Interesses. Scholem spricht nicht von außen, wenn er auf die Religionen zu sprechen kommt, obgleich er als säkularer Jude spricht. Er hat sich nicht gescheut, immer wieder von sich zu behaupten, er habe nie an der Existenz Gottes gezweifelt und könne Atheisten und Agnostiker noch nicht einmal verstehen.25 Säkularisierung ist in seinen Augen nicht das Ende der Religion, sondern Zwischenspiel, Zerstörung um der Erneuerung willen: „I have always considered the transition through secularism necessary, unavoidable ... A direct nondialectical return to traditional Judaism is impossible, historically speaking, and even I myself have not accomplished it.“ Und weiter unten: „Like all destruction, secularism is both liberation and risk.“26 Die dramatische Figur vom Abstieg um des Aufstiegs willen, die Scholem der Mystik entlehnt und in den Mikrokosmos der Wissenschaft eingeführt hat, spiegelt nur, was sich im Makrokosmos des Judentums abspielt. Scholems Kritik der Wissenschaft des Judentums mag gerade darum noch immer zur Deutung herausfordern: die doppelte Distanzierung — Kritik orthodoxer wie liberaler Überlieferung vom Judentum einerseits und Kritik der Säkularisierung andererseits — verweist auf einen Ort, der heute in den Auseinandersetzungen zwischen religiösem und säkularem Judentum manchmal schon beinah unerreichbar scheint. - Neu publiziert wurden in den letzten Jahren vor allem private Aufzeichnungen und Korrespondenz: die Briefe (Bd. I, hg. v. Itta Shedletzky, München 1994; Bd. II, hg. v. Thomas Sparr, München 1995) und Tagebücher (hg. v. Karlfried Gründer u. Friedrich Niewöhner unter Mitarbeit v. Herbert Kopp-Oberstebrink, 1. Halbband, Frankfurt a. M. 1995). Dagegen sind seit den sechziger Jahren in deutscher Sprache mit Ausnahme des großen Sabbatai Zwi von 1957 (übers. v. Angelika Schweikart, Frankfurt a. M. 1992) keine judaistischen Werke Scholems neu erschienen. Die Judaica-Reihe, die den kleineren Arbeiten gewidmet ist, wird nur zögernd mit einzelnen Aufsätzen, die neu ins Deutsche übersetzt wurden, fortgesetzt (fudaica Bd. 5. Erlösung durch Sünde, hg. u. übers. v. Michael Brocke, Frankfurt a. M. 1992 und Judaica Bd. 6. Die Wissenschaft vom Judentum, hg. u. übers. v. Peter Schäfer in Zusammenarbeit mit Gerold Necker u. Ulrike Hirschfelder, Frankfurt a. M. 1997).
- Vater Arthur Scholem kennen wir nur aus den meist kritischen Äußerungen des früh Rebellierenden; die ihren Sohn stets klug abschirmende Mutter Betty kennen wir auch aus ihrem quicklebendigen Briefwechsel mit Gerhard: Betty Scholem – Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946, hg. v Itta Shedletzky in Verbindung mit Thomas Sparr, München 1989.
- Zum folgenden vgl. die Autobiographie: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1977; erweiterte Fassung, übers. v. Michael Brocke u. Andrea Schatz, Frank-furt a. M. 1994.
- Op. cit. (Anm. 3) 145.
- Scholem selbst kommentiert seine Distanzierungen, indem er sie in einer dialektischen Figur zusammenfaßt. „... von vornherein erzeugte der Widerstreit zwischen dem Streben nach Fortsetzung, Wiederbelebung der traditionellen Gestalt des Judentums und dem bewußten Aufstand gegen eben diese Tradition, freilich innerhalb des jüdischen Volkstums und nicht durch Entfremdung und Abkehr von ihm, eine dem Zionismus zentrale, unentrinnbare Dialektik.“ Op. cit.(Anm. 3) 62.
- Op. cit. (Anm. 3) 131; Tagebücher (Anm. 1) 1913-1917, 54.
- Rubaschow war es auch, der unter der Überschrift „Erstlinge” in der Zeitschrift Der Jüdische Wille 1(1918) drei Reden von Eduard Gans vor dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden” — gehalten zwischen 1821 und 1823 — neu abdruckte und mit einer Einleitung versah, in der er Zunz und die anderen Mitglieder des Vereins als „Erstlinge der Entjudung” (30) bezeichnet, aber auch als „Erstlinge der Selbstbesinnung” (32): „Stark genug war die Wirkung der Selbstbesinnung, um sich gegen die Konsequenzen der entjudeten Wirklichkeit aufzubäumen. Zu tiefgehend war aber die Entjudung, als daß die Selbstbesinnung die Wirklichkeit neu zu gestalten vermocht hätte. Was ihnen als Berufung erschien, war die Erfüllung der zwiefachen Aufgabe: ... den bereits begonnenen Prozeß, das Aufgehen der jüdischen Wirklichkeit in die deutsche, fortzusetzen und zugleich damit die Individualität dieser beiden Welten zu wahren“ (ebd.). Nicht lange nach Rubaschow veröffentlichte Scholem seine ersten kritischen Bemerkungen zur Wissenschaft des Judentums, die im Gegensatz zu Rubaschows Mischung aus Sympathie und Kritik reiner Vorwurf sind („Lyrik der Kabbala?“, in: Der Jude VI (1921/22), 54 ff.). Kein Wunder, daß er Rubaschows Veröffentlichung stets mit falschem Titel — „Erstlinge der Entjudung” — zitiert hat.
- Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, 134.
- Bibliography of the Writings of Gershom G. Scholem, Jerusalem 1977.
- „Mitokh hirhurim ‘al chokhmat Yisra‘el“, dt. in: Judaica Bd. 6, 9-52, (vgl. Anm. 1).
- „Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt“, in: Judaica Bd. 1, Frankfurt a. M. 1963, 147-164.
- Friedrich Niewöhner berichtet, daß Scholem ihm noch 1974 versichert habe, sein Artikel von 1944 sei das Beste, was er bis jetzt geschrieben habe. (In: „Der wahre Glaube ist verborgen“, F.A.Z, 29. November 1997, Nr. 278.)
- Perspectives of German-Jewish History in the 19th and 20th Century, Jerusalem 1971, 41-43. Der Band präsentiert die Kongreß-Beiträge in Zusammenfassungen, die von Meir Gilon auf hebräisch verfaßt und von Hanna Schmorak ins Englische übersetzt wurden.
- Judaica Bd. 1, 153.
- EBD., 150. 152 f.
- David Biale und Peter Schäfer haben auf die Doppeldeutigkeit des Wortes daimonion hingewiesen, mit dem Scholem vor allem Zunz und Steinschneider charakterisiert: das Dämonische erscheint wohl als Macht der Zerstörung, doch als göttliche Macht, ohne die es nicht möglich wäre, Neues zu erschaffen. Vgl. David Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/Mass. 1979, 6, und Peter Schäfer, „Gershom Scholem und die ,Wissenschaft des Judentums'”, in: Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen, hg. v. Peter Schäfer u. Gary Smith, Frankfurt a. M. 1995, 122-156, hier: 136 f.
- Vgl. die Vorrede und 448 ff. (Nachdruck: Hildesheim 1966.) Das Buch schließt mit den Worten: „denn unwiderruflich, wie der Sieg der Freiheit und der Civilisation, der bürgerlichen Gleichstellung der Juden und ihrer wissenschaftlichen Cultur ist die Reform und der Triumph des diese Reform offenbar machenden Wortes. Beglückter als Propheten ... soll die Predigt des Rabbinen, der Vortrag des Religionslehrers neben Trost und Hoffnung, neben Lehre und Erbauung auch Segen und Freude gewähren, Segen dem freien Israel, Freude aber dem versöhnten Europa“(496).
- Judaica Bd. 1 (Anm. 11), 153.
- Judaica Bd. 1 (Anm. 11), 151. 164; Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, 51; aber auch die höchst ambivalenten Formulierungen im Essay von 1944: Judaica 6, 15 f.
- Perspectives, 43.
- Judaica Bd. 1, 161 f.
- Judaica Bd. 1, 159 f.
- Davon zeugen auch die warmen und ehrenden Worte für seinen Doktorvater Fritz Rommel, die Friedrich Niewöhner im oben genannten Artikel (vgl. Anm. 12) zitiert hat.
- Briefel,214f.
- So in dem Interview mit Muki Tsur, das 1975 auf hebräisch und 1976 auf englisch erschien: „With Gershom Scholem: An Interview“, in: On Jews and Judaism in Crisis, S.1-48, hier: 35. 46, wo Scholem hinzufügt: „My secularism is not secular.“
- Ebd., 33 f.
Michael Brocke ist Professor für Judentum und Institutsdirektor des Salomon Ludwig Stein-heim Instituts für deutsch jüdische Geschichte an der Universität Duisburg. Er ist bekannt geworden durch seine historisch-kritische Veröffentlichung chassidischer Erzählungen. Wir brin-gen seinen Beitrag aus Anlaß des 100. Geburtstags des Philosophen und Religionshistorikers Gershom Scholem am 5. Dezember 1997. „Ich habe Ihren Rundbrief ... stets mit großer Aufmerksamkeit, Sympathie und Hochachtung für den darin zum Ausdruck kommenden Geist gelesen. Es war ... stets eine Ihnen und uns, den Juden, selbstverständliche gemeinsame Voraussetzung, daß es ein jüdisches Volk gibt, wie immer man dessen theologische oder säkulare Geschichte sehen mag, wie immer man über seine Besonderheit unter den Völkern denken mag und wie immer man seine Zukunft im Geiste eines gemeinsamen Gottvertrauens beurteilen mag ... Die Überzeugung von der historischen Identität der Juden, die durch die Gründung des Staates Israel in ein neues Stadium, ja selbst eine neue Problematik eingetreten ist, wie kein Einsichtiger wohl leugnen wird, scheint mir eine durchaus grundlegende uns verbindende Annahme zu sein.“
 (Aus einem Brief von Gershom Scholem an Gertrud Luckner vom 10. Februar 1967; Archiv FrRu)
| Jahrgang 5/1998 Seite 178
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