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Daniel Krochmalnik

Der Nabel der Welt

Die Sonderstellung Jerusalems in der jüdischen Tradition

In den Nahost-Friedensverhandlungen rückt das Thema Jerusalem immer mehr in den Mittelpunkt. Am 6. Dezember 1995 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit 133 Stimmen erklärt, der israelische Anspruch auf Jerusalem als unteilbare Hauptstadt Israels sei „null und nichtig“. Nur ein einziger Staat stimmte dagegen, Israel. Dreizehn Staaten, die Verbündeten, enthielten sich der Stimme. Frieden könnte an der Stadt des Friedens scheitern.

In der Bibel wird Jerusalem ca. 800 mal erwähnt.1 Die jüdischen Hoffnungen, wie sie sich in der jüdischen Liturgie artikulieren, sind eindeutig auf die Davidstadt fixiert. Die tiefe Verbundenheit des Judentums mit dieser Stadt kommt in den jüdischen Quellen oft zum Ausdruck. Daraus seien hier einige Beispiele angeführt.

Die Aggada von Jerusalem

Das Weltbild der jüdischen Quellen ist jerusalemozentrisch und wird z. B. aus Psalm 50,1-2 herausgelesen:

1) „Ein Gott der Götter ist der Herr, er redet und ruft die Erde vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Untergang.
2) Vom Zion her, der Vollendung der Schönheit, ist Gott erschienen.“

Der Midrasch faßt Vers 1 als Beschreibung der Schöpfung auf. Gott erschafft die Geschöpfe dadurch, daß er sie aufruft. Schöpfung, Erwählung, Berufung sind göttliche Akte der gleichen Art. Vers 2 antwortet nach dem Midrasch auf die Frage, von wo aus die Welt erschaffen bzw. vollendet wurde.

„Und woher sind sie (d. h. der ganze Erdenkreis) erschaffen worden? Von Zion, wie es heißt: ,Von Zion, der Vollendung der Schönheit; d. i. der Vollendung der Schönheit der Welt ... Und woher entnehmen wir, daß von dieser Welt die Rede ist? Hier (Vers 2) heißt es ,Vollendung‘ und dort (Gen 2,1) heißt es: ,Und es wurden vollendet Himmel und Erde und ihr ganzes Heer‘. Aber auch wenn er sie (die Welt) zerstört, beginnt er von Zion aus, denn es heißt: ,Und ich mache Jerusalem zu Steinhaufen‘ (Jer 9,10) ... Und zu der Zeit, wo der HgsE seine Welt erneuern wird, wird er sie vom Zion her erneuern, wie es heißt: ,Aufgerichtet wird sein der Berg des Hauses des Ewigen auf dem Gipfel der Berge‘ Jes 2,2).“2

Von Zion geht nach diesem Midrasch die Erschaffung, die Zerstörung und die Erneuerung der Welt aus; in Jerusalem geschieht der Anfang und das Ende der Welt- und der Heilsgeschichte. Dabei handelt es sich, wie der Midrasch ausdrücklich feststellt, nicht um das himmlische, sondern um das irdische Jerusalem. Nach einem anderen Midrasch zu diesem Psalm ist Jerusalem das räumliche Zentrum der Welt.

„Komm und sieh, so wie der Nabel (TABUR) in der Mitte des Mannes ist, so befindet sich das Land Israel in der Mitte der Welt, wie es heißt: das auf dem Nabel der Erde wohnt (Ez 38,12).
Und von ihm geht der Grundstein der Welt aus, wie es heißt: Ein Gott der Götter ist der Herr, er redet und ruft die Erde vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Untergang ... Das Land befindet sich in der Mitte der Welt, und so ist auch Jerusalem in der Mitte des Landes Israel, und das Heiligtum befindet sich in der Mitte Jerusalems, und der Tempel in der Mitte des Heiligtums, und die Lade in der Mitte des Tempels, und der Grundstein ist vor der Lade, denn von ihm ging die Gründung der ganzen Welt aus.
Salomo, der weise war, stellte sich auf die Wurzeln, die von ihm in die ganze Welt ausgingen, und pflanzte auf ihm alle Arten von Bäumen, und sie trugen (Früchte). Deswegen sagte er: Ich legte mir Gärten und Lusthaine an (Koh 2,5).“3

Salomon hat den Tempel hier als Weltbaum oder -achse beschrieben, auf dem Grundstein der Welt errichtet. Jerusalem gilt den Juden, wie Athen oder Delphi den Griechen, als omphalos tou kosmou, als umbilicus mundi. Dieses Symbol ist sinnreich und schön. Der Nabel, die Nahtstelle zwischen Schöpfer und Geschöpf, ein Zeichen dauernder Abhängigkeit der Welt von Gott und zugleich Erinnerung an den Ort, wo ihm die irdische Nahrung dargeboten und das durch die Sünde gestörte Verhältnis wiederhergestellt wird.

Die Halacha von Jerusalem

Diese Aggada von Jerusalem hat sich, mit Bialik zu sprechen, in der Halacha kristallisiert, wie umgekehrt die Halacha von Jerusalem in der Aggada veranschaulicht wird. Halachisch ist Jerusalem der heiligste Raum im heiligen Land. Die heilige Stadt selbst stellt eine Pyramide dar.

„Innerhalb der Mauern (Jerusalems) ist der Raum noch heiliger ... Der Tempelberg ist noch heiliger, der Zwinger ist noch heiliger ... Der Frauen-Vorhof ist noch heiliger ... Der Israeliten-Vorhof ist noch heiliger ... Der Priester-Vorhof ist noch heiliger ... Der Raum zwischen dem Vorraum und dem Altar ist noch heiliger ... Der Tempel ist noch heiliger ... Das Allerheiligste ist heiliger als jene.“4

Der halachische Jerusalemozentrismus entspricht genau dem israelitischen Theozentrismus. Am Anfang des Buches Numeri wird die theozentrische Ordnung Israels in der Wüste dargestellt. Israel lagerte um das Heiligtum (Num 2,2). Außen das Volk, innen, zwischen dem Volk und dem Heiligtum, die Priester (Num 1,53) und in der Mitte Gott. Das sind die drei Lager: das Lager Israels, das Lager der Leviten und das Lager der göttlichen Anwesenheit. Dann regelt die Tora den Ausschluß derer, die diese heilige Ordnung im levitischen Sinne stören: „Sie sollen das Lager nicht unrein machen, in dem ich mitten unter ihnen wohne. Aus diesem Vers (Num 5,3) leitet nun der Midrasch Halacha die Isomorphie der idealen theozentrischen Ordnung in der Wüste und der Anlage Jerusalems ab:

„Und sie sollen ihre Lager nicht verunreinigen. Von hier haben sie gesagt: Drei Lager gibt es: das Lager der Israeliten und das Lager der Leviten und das Lager der Schechina. Von den Toren Jerusalems bis zum Tempelberg: Lager der Israeliten. Von den Toren des Tempelbergs bis zum Vorhof (inklusive): Lager der Leviten. Von den Toren des Vorhofs nach innen zu: Lager der Schechina.“5

Die Zentralstellung Jerusalems in der biblischen Weltordnung schlägt sich in seiner halachischen Sonderstellung nieder. Das Symbol des Nabels, so sinnreich es in aggadischer und so wichtig es als Organisationsprinzip der Heiligkeitszonen in halachischer Hinsicht ist, so problematisch ist es in moralischer Hinsicht. Es gibt keine Kultstatt, keine Stadt, keinen Staat, der sich nicht für den Mittelpunkt der Welt hielte.6 Alles andere ist bestenfalls Peripherie. Aus der egozentrischen Nabelschau erwachsen alle Ungerechtigkeiten dieser Welt — und das gute Gewissen dazu! Wir wollen die rabbinischen Texte nach einem diesbezüglichen Problembewußtsein untersuchen.

Kritik der Nabelschau

Das Zentrum des Zentrums der Welt, der Grundstein, befand sich im Allerheiligsten, das der Hohepriester nur einmal im Jahr am Jom Kippur betreten durfte. Die Mischna von Jom Kippur beschreibt, was er dort in der Zeit des zweiten Tempels vorfand:

„Nach der Entfernung der Lade befand sich dort ein Stein aus den Zeiten der früheren Propheten. Er wurde SCHTIJA genannt und ragte aus der Erde drei Daumenbreit hoch.“7

Nach dem Verlust der Bundeslade war das Allerheiligste, im Gegensatz zur Cella der antiken Tempel, bis auf den Grundstein leer! Flavius Josephus‘ Beschreibung des Inhalts des Allerheiligsten beschränkt sich auf den Satz: „In ihm befand sich rein gar nichts.“8 Der Verlust wurde aber offenbar nicht nur als Mangel empfunden. Eine rabbinische Tradition rechnet mit einem fadenscheinigen Kalkül nach, daß auch die Bundeslade, die auf diesem Stein stand, keinen Raum ‘eingenommen habe!9 Damit soll einem konkretistischen Mißverständnis vorgebaut werden. Keinesfalls sollte der Grundstein den Platz der Bundeslade einnehmen oder anstelle des Götzenbildes treten. Die Mischna nimmt vom Omphalos-Mythos überhaupt keine Notiz. Die Gemara bringt ihn wieder ins Spiel.

„Es wird gelehrt: Von diesem aus ist die Welt entstanden.10 Wir lernen also überein-stimmend mit dem, welcher sagt, die Welt sei vom Zion aus erschaffen worden. Rabbi Elieser sagt, die Welt sei von ihrer Mitte aus erschaffen worden. Es wird nämlich gelehrt: Rabbi Elieser sagt, die Welt sei von ihrer Mitte aus erschaffen worden, denn es heißt: wenn der Staub zum Gußwerke zusammenfließt, und die Schollen aneinander kleben (Hi 38,38).
Rabbi Joschua sagt, die Welt sei von ihren Seiten erschaffen worden, denn es heißt: denn zum Schnee spricht er: werde Erde, und so auch zum Regengusse und zu seinen gewaltigen Regengüssen (Hi 37,6).
Rabbi Jizchak der Schmied sagt, der Heilige, gesegnet sei er, warf einen Stein ins Meer und aus diesem entstand die Welt, denn es heißt: worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein hingeworfen (Hi 38,6).
Die Weisen sagen, sie sei von Zion aus erschaffen worden, denn es heißt: Ein Gott der Götter ist der Herr ..., und darauf folgt: aus Zion, der Vollkommenheit der Schönheit (Ps 50,1.2), von ihm aus hat sich die Schönheit der Welt vollendet.
Es wird gelehrt: Rabbi Eliezer der Große sagte: Das ist die Geschichte des Himmels und der Erde, als sie erschaffen wurden; zur Zeit, als Gott der Herr Erde und Himmel machte (Gen 2,4), die Kinder des Himmels wurden vom Himmel aus erschaffen, und die Kinder der Erde wurden von der Erde aus erschaffen. Die Weisen aber sagen, diese und jene wurden von Zion aus erschaffen, denn es heißt: Ein Gott der Götter ist der Herr, er redet und ruft die Erde vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Untergange, und darauf folgt: aus Zion, der Vollkommenheit und Schönheit, ist Gott erschienen (Ps 50,1.2); von ihm aus hat die Schönheit der Welt sich entwickelt.11

Jerusalem Öl, 1957, von Schmuel Blumberg
Jerusalem, Öl, 1957, von Schmuel Blumberg, Konstanz. Ausschnitt.
Links hinter der Mauer: der Felsendom. Im Vordergrund: Ölbaum
Gethsemane. Foro: Roberto Legnani

Die Debatte wird wiederholt mit der bekannten jerusalemozentrischen conclusio beschlossen. Doch es werden Stimmen laut, die anderes zu bedenken geben. Die Debatte wird zunächst mit Versen aus Gottes Antwort an Hiob geführt, die einen „Schöpfungsbericht“ — oder vielmehr einen „Antischöpfungsbericht“ — darstellt! Denn wenn im ersten Schöpfungsbericht alles Maß und Ordnung hat, so ist in diesem „Schöpfungsbericht“ alles maßlos und chaotisch. Aus einem Vers, der eine zentrifugale Tendenz aufweist, versucht Rabbi Elieser die Schöpfung als einen Expansionsprozeß der Erde von einem Zentrum darzustellen. Einer seiner Antagonisten, Rabbi Joschua, beschreibt die Kosmogonie nicht als Ausbreitung fester Materie, sondern als Zusammenströmen flüssiger Materie, nicht als Bewegung vom Zentrum zur Peripherie, sondern von der Peripherie zum Zentrum. Im Dictum von R. Jizchak dem Schmied — im Talmud und Midrasch werden in kosmologischen Fragen öfter Handwerker konsultiert12 — ist der Eckstein der Welt im Niemandsland der See eingesenkt.13 Rabbi Elieser der Große liest die polyzentrische Perspektive sogar in den ersten Schöpfungsbericht hinein. Demgegenüber machen die Weisen wieder die Einheit und Stetigkeit des Universums geltend. So lieb uns der Pluralismus ist, so problematisch erscheint uns doch der Dualismus von Himmel und Erde, vom himmlischen und irdischen Jerusalem. Der Pluralismus der Meinungen und Auslegungen in diesem Text zeigt zumindest, daß das zentralistische Weltbild nicht unbedingt der rabbinischen Auffassung entsprach.

Die Diaspora und das Zentrum

In der Diaspora blieb die zentripetale Ausrichtung Israels konkret als Gebetsrichtung14 erhalten. Zion wurde zum Ziel der jüdischen Sehnsucht. Jehuda Halevi (1075-1140/41), der Dichter der Zionssehnsucht, ist der wichtigste Exponent des israelozentrischen Denkens im Judentum. In seinem apologetischen Werk Buch des Kusari, das in der Hauptsache ein Gespräch zwischen dem heidnischen König der Chasaren und einem Rabbi wiedergibt, beschreibt Jehuda Halevi das Land Israel als „Zentrum der bewohnten Erde“, als „Zentrum der Zeit“15 und als „Tor des Himmels“,16 wo die Propheten den heiligen Geist empfangen. Nachdem der Rabbi die Heiligkeit des Landes beschrieben hat,17 muß er sich die Frage gefallen lassen, warum er nicht dort lebt. Hier ist die einzige Stelle des Buches, wo der Rabbi bekennen muß: „Du hast mich beschämt, König von Kusar.18 Schließlich entscheidet sich der Rabbi, nach Jerusalem zu wandern.19 Nun ist es sein heidnischer Gesprächspartner, der fragt: „Was suchst du denn heute in Jerusalem?“ Der Rabbi erwidert, daß er das, was er theoretisch verteidigt habe, in die Tat umsetzen müsse und schließt den ganzen Dialog mit den Worten:

„Du wirst aufstehen und dich Zions erbarmen. Es ist Zeit, sich dessen gnädig anzunehmen, die Frist ist gekommen, denn deine Knechte lieben seine Steine und freuen sich seines Staubes (Ps 102,14 f), d. h. Jerusalem wird erbaut werden, wenn alle Israeliten von äußerster Sehnsucht danach ergriffen sind, so daß sie sogar dessen Steine und Staub lieben.“

Mit der Zionsliebe des Psalmisten hat Jehuda Halevi seiner Sehnsucht Ausdruck verliehen:

„Dort würde ich mich mit meinem Angesichte auf deine Erde werfen, sehr lieb-kosen deine Steine und mit deinem Staub mich freuen.“20

Von dieser Verwandlung religiös-romantischer Liebe, die noch den Staub der Geliebten liebkost, in einen nationalreligiösen-politischen Herrschaftsanspruch ist Jehuda Halevi selber Zeuge geworden. 1099 erstürmten die Kreuzritter Jerusalem. Als er 1140/41 starb, stand der zweite Kreuzzug kurz bevor. Moses Maimonides (1138-1204) war in Ägypten, als Saladin 1187 Jerusalem zurückeroberte. Diese Ereignisse haben ihm sicher auch vorgeschwebt, als er in seinem philosophischen Werk Führer der Verirrten (1190) erklärte, weshalb im Pentateuch der Ort des Tempels nicht angegeben wird. Es heißt lediglich:

„Dann sollt ihr zu dem Ort, den der Ewige, euer Gott, wählen (ASCHER-JIWCHAR) wird, um da seinen Namen thronen zu lassen“ (5 M 12,11).

Deshalb heißt der Tempel auch Haus der Erwählung. Warum der Ort nicht ausdrücklich genannt wird, dafür gibt Maimonides drei Gründe an:

„Erstens, damit sich die heidnischen Völker nicht des Ortes bemächtigen und heftig darum kämpfen, wenn sie wissen, daß diese Stelle des Landes die von der heiligen Schrift gemeinte ist. Zweitens, damit diejenigen, die diesen Ort damals in ihrer Gewalt hatten, ihn nicht nach Möglichkeit völlig verwüsten und zerstören. Drittens — und dies ist der wichtigste Grund —, damit nicht jeder Stamm danach trachte, daß dieser Ort in seinem Erbe sei und er die Herrschaft darüber besitze und infolgedessen viel Streit und Zwietracht darüber entstehe ... Und deshalb erging das Gebot, daß der Tempel erst nach der Einsetzung eines Königs erbaut werde, dem es allein zustehen sollte, den Befehl zu seiner Erbauung zu erteilen.“21

Die Kleinodien Gottes erregen immer Neid. Nach einem Midrasch war Neid das Motiv des ersten Brudermordes (1 Mose 4,8). Der Midrasch möchte die Erzähllücke, worüber Kain und Abel gestritten haben, füllen und fragt, was der Gegenstand des Streites war? Eine Meinung ist, daß sie sich über das Territorium stritten, auf dem künftig der Tempel errichtet werden sollte.22 In der Zeit Maimonides‘ und Saladins spielt auch Lessings Ringparabel. Gott muß, belehrt der weise Nathan Saladin, sein Kleinod unkenntlich machen, wenn er seinen Zweck, den Frieden, eine Stadt des Friedens erreichen will. Maimonides war sich mehr als jeder andere der religiösen Gefahren der Reifizierung des Heiligen bewußt.23

In der Neuzeit hat sich die jerusalemozentrische Hoffnung der Juden verallgemeinert und verflüchtigt. Das Emanzipationszeitalter wollte das Exil dadurch beenden, daß es das jeweilige Exil einfach mit Zion identifizierte — „Deutschland ist unser Zion, und Düsseldorf unser Jerusalem“und die Synagogen „Tempel“ nannte. Die Programmschrift des modernen Judentums heißt „Jerusalem“.24 Diese Schrift Moses Mendelssohns ist die Replik auf die Erwartung der christlichen Aufklärer, daß die aufgeklärten Juden „den wahren Gottesdienst weder an Jerusalem noch Samaria binden, sondern das Wesen der Religion darin sehen, daß ... die wahrhaftigen Anbeter Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten.“25 Mendelssohn erwidert in seiner Schrift, daß ein Jude Jerusalem treu bleiben und Gott trotzdem im Geist und in der Wahrheit anbeten könne.

Aber das Jerusalem, von dem er spricht, ist eine Art jüdische Kirche, die sich problemlos in den modernen, religiös neutralen Staat einfügt. Die Zionssehnsucht hört im Emanzipationszeitalter nicht auf, aber sie wechselt ihr Objekt. Wie in der christlichen Allegorese26 geht es dabei nur noch selten, wie in „Rom und Jerusalem“ (1862) von Moses Heß, auch um die wirkliche Stadt, meistens geht es nur noch um die bessere Gesellschaft. So etwa bei Ernst Bloch:

„Ein Ende des Tunnels ist in Sicht, gewiß nicht von Palästina her, aber von Moskau; ubi Lenin, ibi Jerusalem“ und „Hic Rhodus, hic salta, überall ist Zion nach der Intention der Propheten, und der Lokalberg in Palästina ist längst Symbol geworden.“27

Heute sind Anzeichen messianischer Ungeduld im real existierenden jüdischen Jerusalem unübersehbar. Die Tradition hat aber aus langer, leidvoller Erfahrung diese Ungeduld als DECHIKAT HAKEZ, als Bedrängung des Endes, verurteilt.

  1. Im Koran wird Jerusalem nicht erwähnt. Erst nachträglich wurde das Heiligtum (Al-Quds) in Jerusalem mit dem „weitentfernten Gebetsplatz“, dem Ziel von Mohammeds Himmels-reise (al-miradsch) identifiziert, von der die Sure 17 berichtet. Diese Sure, die auch „Die Kin-der Israel“ heißt, ist für das Verhältnis des Islam zum Judentum auch sonst wichtig.
  2. MidrTeh zu Ps 50(279).
  3. Midrasch TanB, Qedoschim 10, ed. Hans Bietenhard, JudChr Bd. 6, Bern 1982, S. 113. Der Midrasch geht von dem zuletzt genannten Vers aus dem Prediger (3) an und folgert daraus „Salomo war weise und kannte die Wurzel des Grundsteins der Welt (MISCHTATO SCHEL OLAM). Warum? ,Von Zion her Vollendung der Schönheit‘ (Ps 50,2). Von Zion her wird die ganze Welt vollendet. Wie gelehrt wird? Warum wird er ,Grundstein‘ (EWEN SCHTIJA) genannt? Weil von ihm aus die Welt gegründet wurde (HUSCHTAT HAOLAM).“
  4. mKel 1, B. Die Formel für die Heiligkeitsgrade, die immer schwereren Zulassungsbedingungen verknüpft sind, lautet: MEKUDASCH bzw. MEKUDESCHET MIMENU bzw. MIMENA.
  5. SifBem, Naso 1(S. 4).
  6. Zum Symbol des Zentrums vgl. Mircea Eliade, Le mythe de l‘éternel retour, 21969, 24-30. Das architektonische Symbol des Zentrums ist a) ein heiliger Berg, der Himmel und Erde verbindet, b) eine heilige Stadt, ein heiliger Tempel, ein Palast usw., die auch heilige Berge und folglich Zentren sind, c) eine Achse, die Himmel, Erde und Hölle verbindet. Der Tempel ist als umbilicus mundi auch imago mundi. So zielt die Ausstattung des Hejchal nach Josephus und Philon auf eine Darstellung der Welt, und die Basilika des Altertums und die Kathedrale des Mittelalters bilden das himmlische Jerusalem ab. Vgl. ders., Traité d‘histoire des religions, Paris 1964, Nr. 81 f., 200 f. u. Nr. 143, 316-319.
  7. mJom 5,2. Der Stein, von dem die Mischna berichtet, war übrigens viel kleiner als der Stein, den man heute im Felsendom besichtigen kann.
  8. De Bello Judaico V, 5,5.
  9. bMeg 10b.
  10. In jJom 5,4,42c leitet R. Jochanan den Namen des Steines geradezu daher, daß die Welt auf ihm begründet ist. Die ersten Ausgaben fügen hinzu, daß er sich „unterhalb des Palastes Gottes“ befand.
  11. bJom 54b
  12. ShemR 13, 1, 24b1. Dort gleichfalls mit Bezug auf Hi 38, 38.
  13. Aber auch diese Replik kann jerusalemozentrisch gedeutet werden. Nach einer Tradition, die der Targum Jonathan (TJI) zu 2 M 28,30 wiedergibt, verschloß der Grundstein des Tempels (EWEN SCHTIJA) den Mund des unterirdischen Ozeans (PUM TEHOMA). Der Grundstein, der unter dem Palast Gottes in der Tiefe des Meeres befestigt ist (EWEN SCHTIJA KEWUA BATEHOMOT TACHAT HEJCHAL HASCHEM), wurde nach PRE 10 Jona bei seiner Unterseereise im Bauch des Fisches gezeigt. Jona hält seinen Fisch an, betet zu Gott, verspricht seinen Willen auszuführen und wird gerettet. Die Treppen, die die beiden Höfe des Tempels verbanden, wurden auch die „Treppen des Tehom“ (TPs 120) genannt. Dieses Motiv hat Berührungspunkte mit der Ezechielvision von der Tempelquelle (vgl. mMid 2,6, sowie Ps 104,3).
  14. bBer 30a: „... so richtet ganz Israel sein Herz auf einen Punkt.“
  15. Sefer Hakusari II, 20.
  16. Sefer Hakusari II, 23.
  17. Sefer Hakusari II, 22, in Anlehnung an bKet 1 1 l a-112b.
  18. Sefer Hakusari II, 24.
  19. Sefer Hakusari, Schluß, 22.
  20. ZION HALO TISCHALI, 23-25. Vgl. zu diesem Bild, daß natürlich Ps 102, 15 genau entspricht, bKet 112a.
  21. More Newuchim 3,45, dt. Bd. II,2, 277.
  22. BerR 22,7.
  23. Mischne Tora, Hilchot AbZa 1,1.
  24. Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, Berlin 1783.
  25. (August Friedrich Canz), Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Her-ren Moses Mendelssohn, Berlin 1782, Moses Mendelssohn, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, 81.
  26. Thomas von Aquin illustriert die Lehre vom vierfachen Schriftsinn am Beispiel Jerusalems. Im buchstäblichen Sinn handelt es sich um die irdische Stadt, im allegorischen Sinn um die Kirche, im moralischen Sinn um das geordnete Staatswesen und im anagogischen Sinn um das ewige Leben. Vgl. Summa Theologica 1,1, 10.
  27. Das Prinzip Hoffnung, Ffm 1959, Bd 2, 711 u. 713.

Daniel Krochmalnik, Studium der Philosophie und Judaistik; 1988 Promotion mit einer Arbeit zum Thema „Praktische Philosophie als Religionsersatz: Spinozas Auseinandersetzung mit dem Judentum“. Dozent für jüdische Studien in Heidelberg; Arbeit an einer Habilitationsschrift zum Thema „Sokratisches Judentum. Moses Mendelssohns Religionsphilosophie im Zeitalter der Aufklärung“. Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Heidelberg.


Jahrgang 5/1998 Seite 187



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