Es braucht intellektuelle Größe, dialogische Toleranz, eine in Gott gründende Menschenliebe und einen tiefen Glauben an die allen Menschen von Gott verliehene Würde, wenn jemand mit Gliedern eines feindlichen Volkes in ein Gespräch eintritt. Leo Baeck, dessen 125. Geburtstag sich heuer jährt, brachte diese Größe, Toleranz, Menschenliebe und diesen Glauben auf. Baeck ist auf vielfache Weise Symbol des deutschen, ja europäischen Judentums dieses Jahrhunderts geworden. Auf der einen Seite steht er für Gelehrsamkeit und kulturellen Reichtum des Judentums, auf der anderen Seite teilte er das Schicksal seines Volkes und erlebte die Nacht der Schoa im Konzentrationslager von Theresienstadt (28. Januar 1942 bis 8. Mai 1945).
Leo Baeck wurde am 23. Mai 1873 in Lissa, Kreis Posen, geboren. Vater, Großvater und Urgroßvater waren anerkannte und hochangesehene Rabbiner in Oppeln, Düsseldorf und Berlin. Das Bewußtsein in der Kontinuität der Geschichte Gottes mit den Menschen, in der Kette der Generationen, in der ,toledot‘ zu leben, wurde ihm zur festen Überzeugung. In Lissa erlebte Baeck das Miteinander ost- und westeuropäischer jüdischer Kultur, dazu die Traditionen der römisch-katholischen, lutherischen und calvinistischen Bekenntnisse. Der offene, einander im jeweiligen Glauben tolerierende Umgang seines Vaters mit dem calvinistischen Pfarrer, dem das Haus gehörte, das Baecks bewohnten, prägte Baeck sein Leben lang. 1922 wurde er zum Vorsitzenden des allgemeinen Deutschen Rabbinerverbandes gewählt. In dieser Zeit wurden Baeck, Buber und Rosenzweig zu Sprechern jüdisch-religiösen Denkens. Im Jahre 1933, als sich die deutschen Juden zur „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ zusammenschlossen, wurde er ihr Präsident. Nach seiner Befreiung aus Theresienstadt durch die Russen zog Baeck zu seiner Tochter nach London. Er hielt Vorträge in vielen Ländern und übernahm eine Professur am Hebrew Union College in Cincinnati. Wenige Stunden nachdem er seine Unterschrift unter sein letztes großes Werk „Dieses Volk. Jüdische Existenz“ (s.u. 201—203) setzte, verstarb er am 2. November 1956 im Alter von 83 Jahren.1 Bedeutende Institute in New York, London und Jerusalem, Schulen, Lehrhäuser und Synagogen tragen seinen Namen und unterstreichen die Bedeutung, die Baeck bis heute für das liberale Judentum der Welt hat.
Von Baecks prophetischer Kraft lassen sich unschwer Parallelen zwischen ihm und Bonhoeffer erkennen. Trotz vieler Warnungen, Bitten und Hinweise auf den bevorstehenden Krieg kehrte er von Auslandsreisen immer wieder nach Deutschland zurück. Solange noch ein einziger Jude in Deutschland sei, sagte er, hätte er hier seine Aufgabe zu erfüllen. Sein Schuldbekenntnis,2 das er am Versöhnungstag 1935 von den Kanzeln aller Synagogen verlesen ließ, hat zwar eine andere theologische Richtung als das, das in Bonhoeffers Ethik überliefert ist. Die ausgesprochene Deutlichkeit, Verbindlichkeit und Zielrichtung aber ist beiden gemeinsam. Wenn Bonhoeffer das Wesen der Kirche als Sein für die anderen beschreibt, formuliert Baeck, daß erst das Judentum den Mitmenschen wiederentdeckt habe. Die Achtung dem Mitmenschen gegenüber stelle den ganzen Inhalt der Sittlichkeit, ja der Religiosität dar. Im Judentum gäbe es keine Frömmigkeit ohne den Mitmenschen, und das gälte für Freund und Feind in gleicher Weise. Beide, Baeck und Bonhoeffer, sind im Konzentrationslager zu Seelsorgern ihrer Mithäftlinge geworden. Von Baeck hieß es, daß in seiner Nähe das Lager nicht zu bestehen schien, all der Schmutz um ihn herum konnte ihn nicht beflecken. Ähnliches klingt in Bonhoeffers Selbstreflektion durch, die er in seinem Gedicht „Wer bin ich“ beschrieben hat. Bonhoeffer überlebte nicht. Baeck nur, weil ein Zufall ihm half: in den ersten Tagen seines Aufenthalts in Theresienstadt starb ein alter mährischer Rabbi Beck. Das Naziregime meinte, es handle sich um Leo Baeck, der unter allen Umständen sterben sollte.
Während sich im christlichen Umfeld seiner Zeit die dialektische Theologie entwickelte, könnte man Baecks theologische Grundgedanken als die einer „Trialektik“ bezeichnen. Auf der unerschütterlichen Basis des Bekenntnisses zu dem einen und einzigen Gott korrespondieren bei Baeck Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die jeweils voneinander getrennt, aber doch ineinander verwoben sind, so daß sich in ihnen die ,toledot‘, die Kontinuität der Geschichte, erweist. Bei ihm korrespondieren die von Gott geschaffene Menschheit, mit der Gott einen grundlegenden Bund geschlossen hat, mit dem in Ägypten erwählten und am Sinai zur Mission berufenen Volk Israel. Die Völkerwelt, bzw. die nicht-israelitische Menschheit, wird sich, laut Baeck, am Ende der Tage durch die Vermittlung Israels ihres göttlichen Ursprungs und ihres vor Urzeiten mit Gott geschlossenen Bundes erinnern. Am Ende der Tage wird sich die Menschheit mit dem jüdischen Gottesbekenntnis solidarisieren und sich als universale Religion auf die Völker-Wallfahrt zum Zion begeben.
Mit dieser trialektisch-theologischen Konzeption konnte Baeck das Gespräch mit dem Christentum führen. Ohne Zweifel tat er dies in apologetischer und polemischer Weise, in Konfrontation. Aber die führte ihn zum Dialog. Als im Jahre 1900 Adolf von Harnack in seinem Buch „Vom Wesen des Christentums“ versuchte, die Evangelien aus dem Ablauf der vorhergegangenen und auch der nachfolgenden Geschichte zu isolieren, betonte Baeck die jüdische Persönlichkeit und den jüdischen Charakter Jesu, die nirgends anders als auf dem Boden des Judentums erwachsen konnten. Aus keinem anderen Volk hätte Jesus Apostel gefunden, die an ihn glaubten, fügte er hinzu. Hier finden wir erste Gedanken, die er dann ausführlich in seinem 1905 erschienenen Buch „Das Wesen des Judentums“ entfaltete. Als die „Deutschen Christen“ versuchten, ein artgerechtes, arisch-christliches Bekenntnis zu formulieren und die Bibel von allem Jüdischen zu säubern, veröffentliche Baeck (1938) eine kleine Schrift, in der er das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte beschreibt.
Sicherlich war Baeck kein Freund Martin Luthers. In Luthers ,Zwei-Reiche-Lehre‘ sah Baeck eine Übertreibung, die allein dem Staat die Sorge um die zweite Tafel des Gesetzes überläßt. Von hier führe ein direkter Weg zum deutschen Obrigkeitsstaat. In der zentralen Aussage des ,sola fide‘ sei Luther wieder zu einer ,romantischen‘ Religion zurückgekehrt, die Paulus ins Leben gerufen habe, und die sich allein in romantisch-sakramentaler Betrachtung des Mysteriengeschehens um den sterbenden und auferstehenden Gott ergehe. Dem Calvinismus stand Baeck näher. In ihm fand er eine seelische Verwandtschaft zum Judentum, weil er die enge Bindung ans Alte Testament und ans sittliche Handeln betonte. In seinem letzten großen Werk „Dieses Volk. Jüdische Existenz“, dessen erste Hälfte er zum großen Teil in Theresienstadt schreibt und deshalb der ,Midrasch von Theresienstadt‘ genannt wird, beschreibt Baeck angesichts der erlebten Schoa die Geschichte seines Volkes, seine Gottverbundenheit, den Adel und die unantastbare Hoheit menschlicher Individualität und Existenz, die dem Volk Israel und in gleicher Weise allen Menschen zu eigen ist.
Der Dialog mit dem Christentum, der Baeck sein ganzes Leben begleitete, wurde von christlicher Seite im vollen Sinn erst im rheinischen Synodalbeschluß „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“3 aufgenommen, dem Baecks theologische Grundgedanken Pate standen. In diesem Beschluß fanden seine Grundüberzeugungen von dem einen, nie gekündigten Bunde Eingang. Das judenchristliche Bekenntnis zu Jesus von Nazaret als dem Messias Israels in der alten Überlieferung der Gemeinde bezeichnete er zwar ,ein Neues im Judentum‘. Dieses Neue sei aber nichts Neues gegen das Judentum gewesen. Im Blick auf die gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen, die sich in der Hoffnung auf Gottes Reich formuliert, betonte Baeck die je eigene Sendung von Juden und Christen, die echte und wechselseitige Zeugen Gottes sein müßten.
Baecks Bücher wurden von Christen nicht wahrgenommen und im Dritten Reich sofort nach Erscheinen vernichtet. Erst heute erkennt man Baecks Bedeutung auch für die Christenheit. Zum 125. Geburtstag gilt, was Walter Kaufmann in einer Einleitung zu Baecks Aufsätzen schrieb: „Baeck braucht keine Preisreden, er braucht nur gelesen zu werden.“
- Vgl. FrRu 10 (1957/58), 110-111, und FrRu 25(1973), 75-78.
- Vgl. „Leo Baecks Gebet“ zum Kol Nidrei 5969 in Otto Dov Kulka (Hg.), Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus, Mohr Siebeck, Tübingen 1997, 245 ff.
- Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, hg. von Rolf Rendtorff/Hans H. Henrix, Paderborn 1988, 593-596.
Holger Banse ist Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Hamm und Synodalbeauftragter des Kirchenkreises Altenkirchen für Christlich-Jüdischen Dialog und Ökumene.
Jahrgang 5/1998 Seite 195