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Gertrud Luckner
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Baeck, Leo

Werke

Band 2: Dieses Volk: Jüdische Existenz. Herausgegeben von Albert H. Friedländer; Bertold Klappert, 1996. 374 Seiten.
Band 3: Wege ins Judentum: Aufsätze und Reden. Herausgegeben von Werner Licharz, 1997. 320 Seiten.

Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.

Mit Leo Baeck (1873-1956) kommt eine für das Selbstverständnis des deutschen Judentums zentrale Gestalt in den Blick. Für die breitere Öffentlichkeit ist wohl nur sein Wesen des Judentums, die Gegenschrift zu Adolf von Harnacks Wesen des Christentums, als Buchtitel gegenwärtig. Daß Baecks schriftstellerisches Werk wesentlich umfangreicher ist, wird aber für viele wohl erst durch die neue Werkausgabe deutlicher.

Die neue Ausgabe beginnt bewußt nicht mit Band 1, dem Wesen des Judentums, sondern mit der letzten Buchveröffentlichung Baecks: Dieses Volle. Es handelt sich dabei um ein Buch, dessen Lektüre man angesichts der Umstände seiner Entstehung nur mit einer gewissen Scheu beginnen kann. Der erste Band des in zwei Teilen veröffentlichten Werkes (1955 und 1957) ist im wesentlichen im Lager Theresienstadt verfaßt worden, in das Baeck 1942 deportiert wurde, wobei die Arbeit an dem Werk allerdings in die vorangehende Zeit hineinreicht. Baecks Horizont ist geprägt durch eine umfassende Kenntnis sowohl der jüdischen Tradition wie des aufgeklärt westlichen Denkens, wie es sich in der deutschen Philosophie der Jahrhundertwende (Baeck ist Dilthey-Schüler) und auch in der liberalen Theologie darstellte, der Baeck auch in sachlicher Gegnerschaft in vielem nahe bleibt, etwa in dem universalen humanistischen Gestus, der gerade in diesem Buch eindrucksvoll aus einer Selbstbesinnung entwickelt wird.

Die Kapitel des ersten — des „Theresienstädter“ — Buches heißen: Der Bund — Der Auszug — Die Offenbarung — Wüste und Boden. Sie entwickeln in einer biblisch fundierten Reflexion eine Geschichtstheologie, die den eigenen Ursprung für die gegenwärtige Existenz fruchtbar macht und gleichzeitig auch Beurteilungskriterien für die Gegenwart ausformuliert. Die „Zeiteinsage“ ist dabei eher indirekt formuliert, aber zweifellos deutlich, z. B. die Nationen, die sich „um ein Leeres“ bemühen (56). Der Text von Leo Baeck wirkt daher angesichts des dramatischen Zeithintergrundes erstaunlich „objektiv“. Das Wissen um diesen Hintergrund kann allerdings zeigen, daß das Erstaunliche dieser Objektivität nicht ein quasi Unbeteiligtsein ist, sondern vielmehr eine souveräne Behandlung von Fragen, die auch biographisch außerordentlich aufwühlend gewesen sein müssen. Man könnte dies an der Darstellung des Volk-Gedankens aufweisen, wenn man sich bewußt ist, wie die parteigefärbte deutschsprachige Literatur dieser Zeit mit dem Gedanken umgegangen ist. Man könnte es auch an der Frage nach dem Verhältnis zum Christentum angehen, das auf eine implizite Weise anwesend ist. Das erstaunliche Lob für den Apostel Paulus (277) ist sicher kein Zugeständnis, vielmehr ein Heimholen! Ein Beispiel mehr „subjektiver“ Seiten scheinen die Ausführungen über das jüdische Volk als singendes Volk zu sein: „Keines anderen Volkes Lieder sind so weit und so tief in die Menschheit hineingeströmt“ (66). Man ist zunächst an Pascals Eröffnung seiner nachgelassenen Zettelsammlung (Les psaumes chantés par toute la terre: Pensées, éd. Lafuma Nr. 1) erinnert, wo allerdings der gedanklich-apologetische Kontext vorherrscht, und noch mehr an dessen Quelle Augustinus ([Psalmi] toto orbe cantantur: Confessiones, IX, 8), den man als gewichtigen Beleg für diese Aussage Baecks nehmen kann. Andere Stellen sind etwa die Ausführungen über die ,Grundbestimmung des Menschen als hoffendes Wesen‘ (277) — auch diese sind in einem Buch dieses Hintergrundes sicher nicht leicht geschrieben. Das Buch ist so verfaßt, daß es in strenger Gestalt wirken will oder — wie Rosenzweig schon 1923 über Baeck schrieb — daß „hier die Gerüste fast spurlos abgebrochen (sind) und nur der fertige Bau ... sich dem Blick (bietet)“.

Der zweite Teil dieses Werkes stellt dem ersten eine konkrete Betrachtung der großen Geschichtsepochen des Judentums gegenüber, eine Betrachtung mit großem Gestus, die die Geschichte dieses Volkes in vier Jahrtausende aufteilt, wobei wir in der Mitte der vierten Epoche stehen. Die Darstellung enthält viele bedenkenswerte Einzelbetrachtungen zu den großen Gestalten und Epochen des Judentums. Sie lebt dabei aus dem intuitiven Eindringen des Verfassers in diese Geschichte und der Deutung aus der eigenen existentiellen Erfahrung wie aus dem beigebrachten Bildungshorizont. Die Urteile haben häufig etwas Apodiktisches („Geschichte lebt und wird fruchtbar nur, wenn sie der Epochen fähig ist“, 275), allerdings nichts „Engstirniges“. Sucht man nach den konkreten Quellen der hier in einer geschlossenen Weise und ohne „Herkunftsbelege“ gebotenen Schau, so führt der zuletzt erschienene Band 3 der Ausgabe eher in die Werkstatt des Denkens und Arbeitens dieses großen Rabbiners. Der Band ist 1933 erstmals erschienen, umfaßt allerdings Texte aus dem damaligen Wirkungsfeld Baecks, die von 1917 bis 1932 erstveröffentlicht worden sind. Es sind Gedenkartikel aus dem akademischen Umkreis dabei, Artikel über bedeutende jüdische Denker, Aufsätze zur jüdischen Bildungsarbeit und zum Selbstverständnis wie zur Geschichte des jüdischen Glaubens sowie zu gesellschaftlich relevanten Fragen. Zum Verständnis der Denkform dieser Arbeit bietet die Einleitung des Herausgebers einen guten Einstieg, insbesondere die Ausführung über die „Polarität“ im Denken Baecks. Baeck ist geprägt von einer Haltung, die sich das Wesenhafte einer geschichtlichen Erscheinung eher intuitiv-verstehend aneignet. Die Hermeneutik Diltheys dürfte ihm nahegeblieben sein.

Die Ausgabe ist technisch hervorragend. Sie bietet die Seitenzahlen der Originalausgabe als Randmarginalien, präsentiert sich aber als Leseausgabe ohne wissenschaftlichen Ballast. Es ist zu hoffen, daß viele Leser die Besinnlichkeit aufbringen, die die Lektüre solcher Texte erfordert.

Albert Raffelt


Jahrgang 5/1998 Seite 201



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