Herders Biblische Studien 11. Herder, Freiburg 1997. 392 Seiten.
In der christlichen Exegese des 20. Jahrhunderts scheint die rabbinische Auslegungstradition kaum mehr eine Rolle zu spielen. Doch könnte sie gerade angesichts der auch im deutschsprachigen christlichen Bereich in den letzten Jahren (wieder)entdeckten ganzheitlichen bibeltheologischen Sichtweise die exegetische Arbeit positiv befruchten. Daß derzeit modern klingende Ansätze wie Canonical Approach, Intertextualität und hermeneutische Standortbestimmung der Interpreten prägende Momente rabbinischer Schriftauslegung sind, zeigt Bodendorfer überzeugend auf. Als Referenztext dient ihm Ez 16, ein Text, der einerseits durch seine prägnante Bildsymbolik wesentliche Merkmale ersttestamentlicher Prophetie in verdichteter Form enthält, dem aber andererseits gerade in jüngerer Zeit mehrfach frauenfeindliche Tendenzen nachgesagt wurden.
Nach kurzen Bemerkungen über literarische Einheitlichkeit und Gattung von Ez 16 gibt der Verfasser einen Überblick über die Verwendung dieses Textes als Haftaralesung. Ein ähnliches Bild ergibt der folgende Streifzug durch das Targum, wo sich die besondere Gewichtung der ersten 14 Verse von Ez 16 an der überdurchschnittlich großen Zahl von Kommentaren zeigt. Den umfangreichsten Teil seiner Studie widmet Bodendorfer einer sehr detaillierten Betrachtung der häufigsten Traditionen und Motive in der rabbinischen Rezeption von Ez 16. Diese verweisen meist auf die Tora, und darin bevorzugt auf die Erzeltern und die Exodustradition. Eine inhaltliche Verbindung dieser beiden Traditionen und eine religiöse Gesamtschau der Geschichte Israels ist ein zentrales Anliegen rabbinischer Rezeption biblischer Schriften, was auch an Ez 16 deutlich wird. Daß nun diese Art des Umgangs mit biblischen Texten und Motiven nicht der völligen Beliebigkeit unterworfen ist, sondern ein klar reflektiertes Programm mit bestimmten Regeln darstellt, weist Bodendorfer an mehreren Beispielen deutlich nach. Gerade auf intertextueller Ebene führen die Rabbinen eine in der kanonischen Bibel selbst grundgelegte Tradition fort, indem sie durch die Tora vorgegebene Themen im Lichte anderer Schriften reflektieren, um sie dann auf Fragen ihrer Zeit hin anzuwenden. Diese Methode läßt sich vor allem im Bereich der „Ketubim“ auch innerbiblisch nachzeichnen.
Die zahlreichen rabbinischen Referenztexte, im Wortlaut zitiert, zeigen, daß die Bilder und Symbole gerade der ersten 14 Verse von Ez 16 besonders geeignet waren, um Verbindungen zur Tora und der damit verbundenen Heilsgeschichte herzustellen. So wird z. B. „Blut“ (Ez 16,6) in den Kontext von Beschneidung und Pessach gestellt, „Heranwachsen und groß werden“ (Ez 16,7) auf die Vermehrung des Volkes in Ägypten bezogen. Entscheidend bleibt in allen Texten die Deutung der Gesamtbibel als Heilsgeschichte, und diese wiederum als Identitätsmerkmal des Volkes. Dementsprechend sind auch die Verse Ez 16,60-63 mit der Zusage bleibender Treue Gottes zu seinem Volk nach den Versen 1-14 die von den Rabbinen nächsthäufig zitierten. An einzelnen rabbinischen Texten wird auf entscheidende Ergebnisse und Tendenzen aufmerksam gemacht: die zentrale Rolle, die die Rabbinen den Frauen für die Heilsgeschichte zuschreiben, die fruchtbare Art, wie diese Texte Geschichtsschreibung als Identitätsstiftung präsentieren, oder auch auf das Verständnis prophetischer Texte als Brücke zwischen historischer Tora und künftigem Heil. Schließlich kann auch der oft frauenfeindlich aufgefaßte Beigeschmack von Ez 16 durch die Deutung der entsprechenden Symbole nach rabbinischem Vorbild korrigiert werden.
Bodendorfer legt mit dieser Studie ein Beispiel für die Berücksichtigung und Verarbeitung rabbinischer Auslegungsmethoden in der christlichen ersttestamentlichen Exegese vor. Durch die zahlreichen rabbinischen Texte in deutscher Übersetzung ist dieses Buch aber auch für Nicht-Fachleute, die sich einen Einblick in die rabbinische Denkweise und in die Welt der Rabbinen verschaffen möchten, bestens geeignet.
Andreas Vonach
Jahrgang 5/1998 Seite 206