Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv Neue Folge > 1998 > 601  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge
1993/94
1995
1996
1997
1998
1999
2000

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1993

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Mitteilungen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Deselaers, Manfred

Und Sie hatten nie Gewissenbisse?

Die Biographie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen. Benno Verlag, Leipzig 1997. 424 Seiten.

„Auschwitz in den Augen der SS“ heißt eine von Danuta Czech u. a. herausgegebene Dokumentation der „staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau“. Die Dimension und Perversion des Massenmordes soll in den Schilderungen der Täter deutlich werden, vor allem des Kommandanten der Jahre 1940 bis 1943, Rudolf Höß, der seine 1963 erstmals in Deutschland publizierten autobiographischen Aufzeichnungen im polnischen Gefängnis unter dem Titel „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“ verfaßt hat.

Manfred Deselaers, Priester des Bistums Aachen und seit 1990 in Auschwitz (Oswiecim), hat sich intensiv mit den Zeugnissen des Massenmörders Höß auseinandergesetzt. Vor dem Hintergrund von Höß‘ Aussagebereitschaft und teilweise erstaunlichen „Bekehrung“ stellt er die „Frage nach dessen Verantwortung vor Gott und den Menschen“ unter religionsphilosophischem und ethischem Aspekt. Der erste Teil der Arbeit geht anhand der Quellentexte ausführlich der historischen Biographie von Rudolf Höß nach, während der zweite Teil sich um eine anthropologisch-theologische Analyse derselben bemüht. Gewidmet ist das erschütternde Werk den Opfern von Auschwitz.

Deselaers möchte nicht „die Wahrheit über Höß“ (20) darlegen, noch eine „psychologische Analyse“ (16). Fundamentaltheologisch will er Glaube und Kirche vor Verdrängungen bewahren und die Frage nach der Möglichkeit von Liebe angesichts des Bösen stellen. Wegweisend ist dabei die Philosophie von Emmanuel Lévinas als „Schule der Liebe“ (14). Hauptquelle ist die bekannte Autobiographie von Rudolf Höß, die trotz Selbststilisierungen als glaubwürdig betrachtet werden kann. Leider fehlen objektive Zeugnisse über Herkunft und Familie, speziell das katholisch-militaristische Milieu des Vaters, der seinen Sohn als katholischen Priester sehen wollte. Höß entfremdet sich schon früh dem Glauben. Mit fünfzehn Jahren meldet er sich beim Heer, verliert im soldatischen Milieu erste Tötungshemmungen und beheimatet sich beim nationalsozialistischen Artamanenbund (Parteieintritt in die NSDAP 1922). Wegen eines zusammen mit Martin Bormann begangenen Fememordes ist er von 1924 bis 1928 im Gefängnis. 1934 wird er von Himmler für die SS vorgeschlagen und 1940, nach Lagerzeiten in Dachau und Sachsenhausen, mit seiner Familie (fünf Kinder) nach Auschwitz versetzt. Hier will er ein Musterlager der Massenvernichtung errichten. Vergasung gilt ihm als „humaner Vollzug“. Nie hat das „System Auschwitz“ so grausam funktioniert wie unter Höß, der nach seinem Weggang nach Berlin 1943 noch die „Aktion Höß“, die Ermordung von 400 000 ungarischen Juden, in Auschwitz durchführte. Dennoch sagt er von sich, persönlich niemals grausam gewesen zu sein. Alle Gewissensregungen wurden durch die Idolverfallenheit unterdrückt. Es galt die SS-Devise: „Ich wollte als hart verschrien sein, um nicht als weich zu gelten.“

Der methodische Zugang zur Analyse der „Strukturen des Bösen“ mit der Philosophie von Emmanuel Lévinas und Paul Ricoeur, unter Heranziehung von Josef Tischners und Bernhard Weltes Untersuchungen, scheint weiterführender zu sein als aller Psychologismus, vor allem im Hinblick auf die mögliche „Verantwortung“ von Schuld. So sieht Deselaers Rudolf Höß als jemand, der einer idolischen Menschen- und Weltbeziehung verfallen war.

Faszinierend und in keinster Weise feuilletonistisch ist im zweiten Teil des Buches die Verknüpfung von philosophisch-theologischer Analyse des Bösen und biographischer Lage. Erst der Zusammenbruch des idolischen Systems des Nationalsozialismus und die Verhöre durch den Krakauer Untersuchungsrichter Jahn Sehn und den Kriminologen Stanislaw Batawia führen zu Einsicht und Umkehr. Die in der polnischen Haft erfahrene Menschlichkeit beendet eine idolische Existenz und führt sogar zur Wiederversöhnung mit der Kirche. Wenige Tage vor seiner Hinrichtung verfaßt Höß im Gefängnis in Wadowice (dem Geburtsort von Papst Johannes Paul II.) eine „Erklärung“, die von Deselaers erstmals für deutschsprachige Leser veröffentlicht wurde:

„In der Abgeschiedenheit meiner Haft kam ich zu der bitteren Erkenntnis, wie schwer ich an der Menschheit gefrevelt habe. Als Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz verwirklichte ich einen Teil der grauenhaften Menschenvernichtungspläne des ,Dritten Reiches‘. Ich habe so der Menschheit und der Menschlichkeit schwersten Schaden zugefügt ... Meine Verantwortlichkeit büße ich mit meinem Leben. Möge mir einst der Herrgott mein Handeln vergeben. Das polnische Volk bitte ich um Verzeihung. In den polnischen Gefängnissen erst habe ich erfahren, was Menschlichkeit ist. Es wurde mir trotz allem Geschehenen eine Menschlichkeit bezeugt, die ich nie erwartet hätte und die mich zutiefst beschämte. Mögen die derzeitigen Enthüllungen und Darstellungen der an der Menschheit und der Menschlichkeit begangenen ungeheuerlichen Verbrechen dazu führen, daß für alle Zukunft schon die Voraussetzungen zu derartigen grauenvollen Geschehnissen verhindert werden.
Rudolf Franz Ferdinand Höß, Wadowice, am 12. April 1947“ (228 f.).

Stephan Hartmann


Jahrgang 5/1998 Seite 208



top