Übereinstimmung, Fortführung und zeitgenössische Identifikation. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1995. 238 Seiten.
Nachdem sich der Autor in früheren Arbeiten mit der Herkunft des jungen Marx befaßt hatte, zeitigt er hier die Ergebnisse seiner Forschungen zu den ursprünglichen Quellen der Theorien von Karl Marx und den sich daraus ergebenden Folgerungen für das Marxsche Persönlichkeitsbild. Für Monz zeigt sich, daß Marxens „Theorien zum Thema einer universellen Gerechtigkeit in ganz bemerkenswerter Weise mit dem grundlegenden Gerechtigkeitsbegriff der Hebräischen Bibel und zugleich mit den Grundsätzen der damals noch unmittelbar gegenwärtigen Französischen Revolution kritisch verknüpft sind“ (13).
Ziel des Buches ist es, der originalen Persönlichkeit von Karl Marx und seinen ursprünglichen Vorstellungen von Gerechtigkeit zu entsprechen. Monz geht es „bei der inhaltlichen Ausfüllung des hier im Mittelpunkt stehenden Begriffs ,Gerechtigkeit‘ um die Beantwortung der Frage einer möglichen — bewußten oder unbewußten — Einordnung, Identifikation und Verwirklichung vorhandener Vorstellungen, die Karl Marx aus der Welt des Judentums aufgenommen hatte, denen er sich stellte und die er in seiner Zeit aktualisierte und neu formulierte“ (21).
Für Marx ist die Ausfüllung des Begriffs Gerechtigkeit „entscheidend abhängig von der Vorstellung der dialektischen Veränderung der Gesellschaft“ (51). Die Verhältnisbestimmung von Gleichheit und Verschiedenheit, von Gemeinschaft und Individuum waren ihm dabei zentrale Anliegen. Gleichheit bestand für ihn darin, daß der Mensch nicht trotz gegebener natürlicher Unterschiede und Tätigkeiten formell — und damit letztlich in unmenschlicher Weise — gleich, sondern wegen dieser Unterschiede ,ungleich‘ gestellt werden müsse und ihm dementsprechend ,Gerechtigkeit‘ widerfahre. Gerechtigkeit bedeutete für Marx, daß jeder Mensch seine Bedürfnisse und Möglichkeiten entwickeln und sich alle Fortschritte des menschlichen Lebens nutzbar machen kann. So erhalten Begriff und Ziel einen allgemein menschlichen Wert. Es war seine große Entdeckung, daß keineswegs primär Leistungen, sondern Bedürfnisse Rechte konstituieren. Daraus folgt, „daß es in erster Linie nicht mehr auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Gleichheit, sondern auf die positive nichthierarchische Anerkennung des Menschen in seiner historisch konkreten Individualität und Besonderheit ankommt“ (61).
Im weiteren Fortgang zeigt Monz anhand seiner Analyse der alttestamentlichen Sozialgesetze und der prophetischen Kritik an deren Nichteinhaltung, wie sehr der Begriff der Gerechtigkeit der Hebräischen Bibel identisch ist mit dem Recht und der Befreiung der Schwachen und Armen. „Die Erfüllung der Gerechtigkeit ist der Gottesdienst, der Kult, den Gott erwartet. Die Vollendung der Gerechtigkeit wird den Gegensatz zwischen Armen und Reichen, zwischen Herrschenden und Beherrschten aufheben“ (92). Letztlich ist das Ziel also eine Gerechtigkeit, „die wesensmäßig Gott mit den Menschen und zugleich die Menschen untereinander verbinden soll“ (119).
Unter den Stichworten „Übereinstimmungen, Gegensätze, Fortführungen“ faßt Monz zusammen, daß beide, die Hebräische Bibel und Karl Marx, als ein künftiges Ergebnis der Geschichte „eine materielle Gerechtigkeit“ sehen, „die zugleich Ausdruck der Befreiung des Menschen zu seiner geistig-materiellen Ganzheit sein wird“. Da jedoch bei Marx „die letzte Konsequenz, der wahre Gott, unerwähnt bleibt“, könnten „die Aspekte der materiellen Verwirklichung der Gerechtigkeit und der Aufhebung der Entfremdung ... wohl nur in ihrer Zielsetzung als identisch angesehen werden“ (168). Hinsichtlich Marxens Stellung zu Gott, Religion und Kirche knüpft Monz an dessen Auseinandersetzung mit dem Mißbrauch der Religion an und deren Verschärfung durch die Zwangstaufe der Familie Marx. In Übereinstimmung mit Marxforschern stellt er fest, „daß sich zum einen die unmittelbare Verneinung eines Gottes durch Karl Marx auf das Zerrbild eines Gottes in seiner Zeit bezog und daß er sich zum anderen gegenüber dem Gott der Bibel indifferent verhielt“ (203). Im Anschluß an christliche wie jüdische Theologen ordnet er ihn „religionsgeschichtlich besser in die Gotteskämpfer-Kategorie als in die der Gottesverleugner“ ein (204). Die Ablehnung des bürgerlichen Gottesbildes ließ in Marx die sozialrevolutionäre Botschaft des „Gottes seiner Väter“ wieder lebendig werden: „Er rang um die Gerechtigkeit, die er vermißte“ (205). Als vielleicht höchste Stufe der Anerkennung Gottes wird im Judentum der Kampf mit Gott gesehen. Und es heißt, daß derjenige, der sich offen halte für alles das, was den Wert eines Menschenlebens ausmacht, sehr nahe bei Gott sei und daß die Rechtschaffenen Anteil am künftigen Leben haben. War Marxens Antwort auf die Nöte seiner Zeit dann etwa die Fortsetzung der biblischen Botschaften im Sinne eines zeitgenössischen Propheten? Karl Marx machte seine Botschaft fest an der akuten politisch-ökonomischen Situation des 19. Jahrhunderts. Sein Denken wird als „die große Tat der Liebe gesehen, weil er den Versuch unternommen habe, die Welt ,durch die Augen seines proletarischen Bruders zu sehen‘, sie für ihn zu interpretieren und zu verändern“ (nach Walter Dirks, 210). Karl Rahner sah in der von Marx vertretenen „echten authentischen Liebe zum konkreten, elenden Menschen auch den Geist Gottes am Werk“, der bei den Christen durch deren vielfaches Versagen vielleicht nicht das bewirken könnte, was er in der Welt sicher bewirken will (210 f.).
Hier ist ein Buch, das neue Perspektiven eröffnet im Dialog zwischen Judentum/Christentum und authentischem Sozialismus. Es wendet sich an alle Interessierten, die in diesem Dialog verheißungsvolle Perspektiven erblicken für die gemeinsame und unteilbare Verantwortung zur Gestaltung dieser Welt.
Wieland Zademach
Jahrgang 5/1998 Seite 217