Zeichen und Wunder am Sereth. Band 7 der Werkausgabe. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte. Dietrich zu Klampen Verlag, Luneburg 1997. 199 Seiten.
Beinahe schon wohlvertraut im kleinen Kreis ist das wiederentdeckte Werk des vertriebenen deutsch-jüdischen Schriftstellers Soma Morgenstern (1890-1976). Im Gegensatz zu seiner Trilogie Funken im Abgrund ist Die Blutsäule dagegen verschlüsselt wie kein anderes seiner Bücher, schwer zu verdauen und nicht ganz einfach zu lesen. Es ist als Epilog zu Funken im Abgrund zu verstehen, als „Totenbuch“, wie Soma Morgenstern selbst es bezeichnete. Im sogenannten Motivenbericht zum Buch hob der Dichter seine Ansicht hervor, „daß ein jüdischer Schriftsteller, der sich von diesem ungeheuren Geschehen abwendet und seinem Beruf weiter nachgeht wie bisher, es nicht verdient, die Mörder überlebt zu haben“. Dieser hohe moralische Anspruch prägt das Buch und gefährdete es zugleich im höchsten Grade. Morgenstern hatte seine Sprache verloren. „Ich habe mich in die Deutschen so verhaßt“, trug Morgenstern 1949 in sein Tagebuch ein, „daß ich auch die deutsche Sprache nicht lieben kann. Und ein Schriftsteller, der seine Sprache nicht liebt, hat keine Sprache.“
Seit 1943 plagte er sich mit dem Gedanken, diese Mordexzesse in Worte zu fassen. Über Jahre quälte er sich mit verschiedenen Fassungen. Ende 1952 war das Rohmanuskript endlich fertiggestellt. Es ist die Schilderung eines Prozesses. Himmel und Hölle erscheinen, oberstes Gericht und tiefste Niedertracht schicken ihre Vertreter, über die Täter wird zu Gericht gesessen. Ort des Geschehens: die Synagoge in einer ostgalizischen Kleinstadt. Auf entsetzliche Weise entweiht und geschändet, wird sie zum Schauplatz einer wunderlichen, unglaublichen Zeremonie. „Zeichen und Wunder am Sereth“, der Untertitel gibt den Ton vor. Das ist Anklage gegen zweitausendjährige Verfolgung, Aufschrei gegen die Vernichtung durch „die deutschen Mordbrenner“. Legenden, Mythen, Predigten in einer Sprache verfaßt, die ihresgleichen sucht. Morgenstern wollte ein Buch schreiben, „wie es einer vermochte, der in seinem ganzen Leben nichts anderes gelesen hätte als die (hebräische) Bibel“. Das Buch beginnt mit Sätzen wie aus Granit gehauen, der Vernichtung zum Trotz, für die Ewigkeit gemeißelt.
„Es geschah in dem Teil der Welt, wo keine wahre Religion, dieses Namens wert, je gewachsen ist; ... es geschah in der Zeit, die ruchlos geworden war an der Ruchlosigkeit des Volkes der Nazi-Deutschen, das ... bald große Panzerheere von Mordbrennern ausrüstete und in schnellem Raubzug schier den ganzen Erdteil mit Krieg und Tod und Feuer zwang. Es geschah aber im dritten Monat des fünften Kriegsjahres, da jenes starke Volk des Ostens, das unter einem roten Stern wiedergeboren wurde, dem blutbesoffenen Panzerheer der Deutschen mit stählerner Faust auf die eiserne Stirne geschlagen hatte und das taumelnde Monster mit wuchtigen Tritten über die verwüsteten und ausgebrannten Länder des Ostens hinweg zurück in das blutbeladene Land seines Ursprungs trieb.“
Aber es sind auch erzählerische Momente darin und Szenen, die haften bleiben: ewige Fragen der Gerechtigkeit, großartige Monologe der wenigen Warnenden, daneben das Zögern und Zaudern der Gläubigen, der Verlorenen, und die Schamlosigkeit der Mörder. Wieder, wie schon in der Trilogie, trifft der Blutrausch der Judenhasser ausgewählte Kinder, „das Zarteste und das Schwächste“. Detailliert werden die Greuel vor der Phantasie des Lesers ausgemalt. Dann läßt er ein großes Klagelied erklingen — wie ein heiliges Tribunal.
Das Buch ist aus seiner Zeit heraus zu begreifen (1943-1952). Soma Morgenstern, der davongekommene deutsche Jude, wagte es, nach Auschwitz das Unsagbare in Worte zu fassen. Sein Werk gilt als eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse über den Holocaust. Passagenweise ist es in hebräischer Sprache abgedruckt in einem konservativ-jüdischen Gebetbuch und damit fester Bestandteil der Liturgie an Jom Kippur. So schonungslos der Dichter diese Abrechnung auch angelegt hat, am Ende enthält sie Hoffnungsfunken für den Leser bereit, Lichtblicke ausgerechnet im Augenblick tiefster Verzweiflung. „Ein Buch“, erklärte der 83jährige Schriftsteller Anfang der 70er Jahre, „das nicht in Hoffnung endet, nicht hoffnungsvoll ist, ist kein jüdisches Buch. Und wir hoffen natürlich auf Erlösung.“
Stefan Berkholz
Jahrgang 5/1998 Seite 219