1. Die Lebensabschnitte
Primo Levi (1919-1987) wurde in eine assimilierte jüdische Turiner Familie des italienischen Mittelstands geboren. Sein Vater war Ingenieur und hatte einige Jahre im Ausland gearbeitet, war also welterfahren und aufgeschlossen. Seine Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits waren Kaufleute in der Textilbranche und schon seit Generationen im Piemont ansässig.
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Primo Levi etwa sechs Monate vor seinem Tod. Im Original ist auf seinem linken Unterarm die eintätowierte KZ- Nummer sichtbar. Foto: Eva Auf der Mau |
Das Kind Primo war zartgliedrig blond und ziemlich schüchtern. Als Gymnasiast interessierte er sich früh für die naturwissenschaftlichen Fächer. Obwohl er für Literatur wenig übrig hatte, las er viel und kunterbunt denn sein Vater war ein sammelwütiger Bibliomane. Erst im KZ und später während seiner schriftstellerischen Arbeit zeigte sich, wie tief die Klassiker ihn dennoch geprägt hatten. Sie bewahrten ihm in Auschwitz seinen Verstand. So versuchte er einmal, Teile der
Divina Commedia einem jungen französischen Mitgefangenen zu rezitieren, hatte aber Gedächtnislücken und hätte sogar zwei Brotrationen dafür gegeben, hätte er diese Lücker schließen können.
Nach dem Gymnasium schrieb Levi sich am chemischen Institut der Universität Turin ein, wo er 1943 promovierte. Trotz der Rassegesetze fand er eine Stelle im Labor eines Bergwerks. Am 19. Oktober 1945 kam er aus Auschwitz zurück. Zwei Jahre später heiratete er Lucia Morpurgo. Sie hatten eine Tochter und einen Sohn. Zunächst arbeitete er in kleinen chemischen Laboratorien und wurde schließlich Direktor einer bedeutenden chemischen Fabrik. Einige seiner Erfindungen werden auch heute noch angewendet. Primo Levi sprach fließend Französisch und beherrschte Deutsch und Englisch. Gewohnt hat er zeit seines Lebens im elterlichen Haus in Turin. Dort beging er auch am 11. April 1987 Selbstmord. Er stürzte sich morgens um zehn Uhr vom dritten Stock in den Schacht des Treppenhauses, offensichtlich spontan, ohne Vorankündigung oder Abschiedsbrief, nur wenige Minuten nachdem er noch freundlich mit der Concierge gesprochen hatte. Mittags hätte er einen Termin mit einem befreundeten Arzt aus London gehabt, der gekommen war, um ihm während seiner immer häufiger auftretenden Depressionen beizustehen. Sein Grab befindet sich im jüdischen Teil des Cimitero Corso Regio Parco, Turin.
2. Entwicklung der Identität
In seiner Jugend nahm Primo Levi sein Judentum höchstens als „amüsante Anomalie“ wahr, wie er später seinem Freund Ferdinando Camon gestand. Er war ungläubig, interessierte sich auch nicht für philosophische Fragen. Moral war für ihn eine selbstverständliche conditio sine qua non. Zudem kam er aus einem Milieu, das ganz dem Geist der Aufklärung verhaftet war. An seiner Religiosität oder Gläubigkeit hat sich auch nach der Erschütterung des KZ nichts geändert. Darin unterschied er sich nicht von seinen Leidensgenossen. Die, die gläubig waren, blieben vielfach gläubig, suchten allerdings verzweifelt nach Beweisen für die Existenz Gottes trotz Auschwitz wie z. B. der Philosoph Hans Jonas (1903-1993), der seinen Glauben an einen gütigen Gott zu erhalten suchte, indem er ihm seine Allmacht absprach. Primo Levi, Jean Améry (1912-1978), Paul Celan (1920-1970), Elie Wiesel und andere sehen oder sahen gar keinen Gott oder hatten ihn verloren. Während einer Selektion für die Gaskammern war Levi einmal versucht, ein Gebet zu Gott zu schicken. Aber seine intellektuelle Redlichkeit ließ ihm sein Gebet als primitive Feigheit und Aberglauben erscheinen. Er beneidete jedoch die religiös und politisch Gläubigen, die aufgrund ihrer Glaubenssicherheit Quälereien, Demütigungen und Ängste besser überstanden. Er erfuhr aber auch, daß die Frommen und Gläubigen nicht hilfsbereiter waren — mit Ausnahme eines kleinen, nur jiddisch und polnisch sprechenden Rabbi, von dem es hieß, er sei ein sehr berühmter Gelehrter.
Erst nach seiner Rückkehr aus Auschwitz befaßt sich Levi mit der Tora und dem Talmud, nicht des Glaubens halber, sondern um sich seines Judentums bewußt zu werden. Aus der „amüsanten Anomalie“ war ein Zugehörigkeitsbewußtsein zu seinem Volk geworden. Am stärksten jedoch schloß ihn die auf seinen Unterarm tätowierte KZ-Nummer an sein Judentum. Sie ließ ihn jüdischer sein als Pentateuch oder Talmud es je hätten tun können.
Daß Primo Levi bei der ersten Selektion nicht auf die Seite der zu Vernichtenden geschickt wurde, verdankte er teils seinen Deutschkenntnissen und teils seinem Glück. Das Glück erwähnt Levi wiederholt, denn oft kam es bei der Auswahl für Tod oder Leben weder auf die physische Verfassung noch auf den Gehorsam oder auf sonstige, menschlich beeinflußbare Faktoren an, sondern nur auf „schieres Glück“. Selbstmord, um der Qual zu entgehen, war außerhalb jeglichen Gedankens und kam auch fast nie vor. Erst nach der Befreiung hatten die ehemaligen Insassen Zeit und Ruhe, Selbstmord als Sühne für vielleicht begangene Fehler oder lieblose Unterlassungen zu erwägen. Der Drang zum Überleben war so stark, daß man am besten ganz für sich blieb. Teilen war nur zum Preis des eigenen Lebens möglich. Mitleid und Moral schienen im KZ keinen Platz zu haben. Deshalb litt Primo Levi nach seiner Rückkehr so sehr unter der vermeintlichen Schuld der nicht geleisteten Hilfe.
„Die Geretteten der Lager waren nicht die Besten, die zum Guten Vorbestimmten, die Überbringer einer Botschaft. Was ich gesehen und erlebt habe, bewies das genaue Gegenteil. Überlebt haben vorwiegend die Schlimmsten, die Egoisten, die Gewalttätigen, die Gefühllosen, die Kollaborateure der ,Grauzone‘, die Spione. Das war keine zuverlässige Regel (in menschlichen Dingen gab und gibt es keine zuverlässigen Regeln), aber doch eine Regel. Gewiß, ich fühlte mich ohne Schuld, aber gleichzeitig war ich den Geretteten zugesellt und daher auf der ständigen Suche nach einer Rechtfertigung vor mir selbst und den anderen. Überlebt haben die Schlimmsten und das heißt die ,Anpassungsfähigsten‘. Die Besten sind alle gestorben.“1
Diese belastenden Gedanken haben wohl letztlich zu seinen Depressionen und zu seinem Selbstmord geführt. Ähnlich ist es Jean Améry, Bruno Bettelheim (1903-1990), Paul Celan und ungezählten Namenlosen ergangen. Wenn sich Levi später an seine Lagerzeit zurückerinnert, dann ragt ein wortkarger, fast analphabetischer italienischer Zwangsverpflichteter aus der anonymen Masse der KZ-Bewohner heraus: Lorenzo Perrone. Er organisiert für Levi jeden Tag einen Liter Suppe, manchmal sogar ein Brot, was Ende 1944 das Überleben bedeutete. Wäre Perrone erwischt worden, hätte es für ihn den sicheren Tod bedeutet. Nach der Rückkehr suchte ihn Levi auf, um seiner Dankbarkeit und Hochachtung Ausdruck zu geben. Doch Perrone wollte nichts davon wissen, er blieb der wortkarge Mann, der er auch in Auschwitz gewesen war, wo er nur seine menschliche Pflicht getan hatte. Nach ihm nannte Levi seine Tochter Lorenza und seinen Sohn Renzo.
3. Das literarische Werk
Levi drängte es so sehr, Zeugnis abzulegen und sich innerlich zu befreien, daß er gleich nach seiner Rückkehr begann, seine Erfahrungen niederzuschreiben. Doch kein Verlag interessierte sich für dieses Thema. Um so mehr hatte Levi die Worte eines SS-Mannes im Gedächtnis: „Wenn ihr überlebt, dann wird euch keiner glauben, was ihr erzählt. Wir schreiben die Geschichte.“ Die sich in der Leugnung der Geschehnisse bewahrheitende Vorhersage bedrückte ihn mehr und mehr. Sein fast aussichtslos scheinender Kampf um die Erinnerung trug zu seinen immer häufiger auftretenden Depressionen bei. Er wußte sich verpflichtet, darauf hinzuweisen, wozu schrankenlose Macht, Hybris und Fanatismus fähig sind.
Nach elf Jahren konnte er endlich Ist das ein Mensch2 publizieren. Die Zeit für seinen Erfolg war gekommen. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt, er wurde in Italien, Amerika und England zu Vorträgen eingeladen und erhielt namhafte Literaturpreise. Heute erscheinen kaum Untersuchungen zur Schoa ohne Bezug auf Primo Levis Werke. Nach der Publikation seines Bekenntnisbuchs Ist das ein Mensch folgten Kurzgeschichten, die immer wieder frappieren durch ihren lebendigen Witz und die genaue Charakterisierung der Personen. Hier, wie in allen seinen Schriften, schimmert seine große Menschenliebe durch, mit viel Humor, aber ohne jedes Pathos.
Als zweites großes Buch erscheint Die Atempause3 und dann bald der einzige Roman Wann, wenn nicht jetzt?4 Die Atempause schildert seine Heimkehr aus Auschwitz, die sich schwierig und unkoordiniert gestaltete, weil niemand zuständig war. In einer aberwitzigen Reise von Polen fast bis Minsk, über Rumänien, Ungarn, die Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland kamen Levi und seine Kameraden nach neun Monaten nach Italien. Die Schilderung der chaotischen Rückkehr liest sich wie ein Schelmenroman und ist doch gelebte Wirklichkeit. Liebevoll zeichnet er die russischen Soldaten und Offiziere in ihrer kindlichen Freude an Frontkino und Theateraufführungen. Er erzählt auch, wie er und seine Kameraden sich auf halblegalem Weg Nahrungsmittel, Kleidung oder etwas Geld zu verschaffen suchten. Man spürt die Lebensfreude der jungen, dem Leben wiedergegebenen Menschen. Die Rückkehr ist 1996 von Francesco Rosi — er spielt selbst die Rolle des Primo Levi — verfilmt worden und hat in Cannes den La-Tregua-Preis bekommen.
Der Roman Wann, wenn nicht jetzt? schöpft aus Erzählungen von KZ-Insassen, die Levi in Italien nach seiner Heimkehr traf. In spannende Kapitel bettet er Gedanken über Humanität und den immer noch existierenden Antisemitismus. Am Ende steht die Hoffnung auf einen jüdischen Staat in Palästina, gegründet auf seiner eigenen utopischen Vorstellung von Gerechtigkeit und Toleranz. Als er später von den Problemen zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern erfährt, ist Levi empört, denn Unterdrückung und Verweigerung der Gleichberechtigung, die er so leidvoll am eigenen Leib erlebt hat, verabscheut er mit der ganzen Kraft seiner Seele.
Sein bedeutendstes Buch, Die Untergegangenen und die Geretteten, ist sein letztes und sein Vermächtnis. Darin geht er all den Fragen nach, die ihn zeit seines Lebens beschäftigt haben: der Überheblichkeit der Menschen, der Persönlichkeitsspaltung in gute Familienväter und brutale Schlächter, der Frage des sogenannten Zivilgehorsams, der Wahrnehmung der eigenen Verantwortung gegenüber einer Mehrheitsmeinung und der Übermacht des elementaren Überlebenswillens, der nur noch das eigene Leben sieht. Er überlegt, wie Menschen dazu gebracht werden können, Ungerechtigkeit, Gewalt und blinden Fanatismus als solche zu erkennen. Levi geht es um jene Untergegangenen, die zugunsten eines andern auf ein Privileg verzichtet haben. Er beschreibt ohne Pathos, nur der Wahrheit verpflichtet, den Verlust der menschlichen Würde, den Abstieg des Menschen zum Ungeziefer. Dieses Pendeln zwischen Menschsein und Nicht-mehr-Mensch-sein ist tödlich. Levi vermeidet, wo immer möglich, explizite Beschreibungen. Sind sie dennoch nötig, so befleißigt er sich einer emotionslosen Distanziertheit. Er sucht nicht die Sensation. Er will erinnern und die Welt aufrufen, nicht zu vergessen.
Ein deutscher Chemiker, der behauptet, Levi in Buna-Monowitz gesehen zu haben, kommt in seinen Briefen an Levi immer wieder auf die Frage der Verzeihung zu sprechen. Freundlich aber bestimmt antwortet ihm Levi, daß er einem Menschen, der bereut und zu seiner Tat steht, wohl verzeihen kann, aber nur für seine eigene Person und nur das an ihm begangene Unrecht. Es wäre aber unstatthaft, pauschal das Verbrechen an Millionen von Juden zu verzeihen. Wer dürfte im Namen all der Toten sich eine Verzeihung anmaßen? Entschuldigung und Verzeihung kann nur von Person zu Person geschehen. Was zu tun ist, ist die Schuld anzunehmen, ohne Beschönigung und ohne Ausreden. Auch die Nachkommen müssen wissen, was ihre Väter und Großväter, ihre Mütter und Großmütter getan haben. Aus Verheimlichung kann nur der Verdacht auf Übertreibung wachsen. So wie er und Jean Améry ihre Häftlingsnummern weiter am Arm tragen, weil sie dazu stehen, entmenschlicht gewesen zu sein, so müssen auch die andern ihre Schuld offen tragen. Er weiß, daß man die Generation der sogenannten „Gnade der späten Geburt“ nicht schuldig sprechen kann für die Taten der Eltern, aber die Spätgeborenen müssen des Geschehenen eingedenk sein und darüber wachen, daß es nicht wieder geschieht.
4. Das Leben als Verpflichtung
Aber Levi liebte das Leben trotz allem. Er schrieb Jean Améry zu wiederholten Malen, er solle das Leben als Geschenk annehmen. Nach Amérys Freitod bekräftigte er noch deutlicher, daß Selbstmord kein Ausweg ist. Und doch nahmen seine eigenen Depressionen und das entsetzliche Gefühl, nur auf Kosten der Toten überlebt zu haben, zu, bis er ihnen schließlich selbst erlag. Sein oft erwähntes „Glück“ hatte er vergessen.
Neben seinen Schuldgefühlen empfand er auch eine unüberwindliche Scham. Ein kurzer Abschnitt in Ist das ein Mensch ist dazu aufschlußreich. Er läßt erspüren, daß Arroganz, gepaart mit physischer Macht, eine Lähmung unserer moralischen Widerstandskraft bewirkt. Elie Wiesel und Primo Levi beschreiben beide eine Hinrichtung. Wiesel gibt eine detailgenaue Beschreibung der langen Agonie der Gehängten. Levi dagegen berichtet nüchtern, daß Menschen umgebracht werden. Er erspart die Details, schaltet aber unser Denken nicht aus. Er fordert das Gewissen, nicht die Gefühle, heraus, denn Gefühle sind manipulierbar. Er verbietet sich jegliches Haschen nach billigem Mitleid. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der lateinischen ratio des urbanen Italieners und der chassidischen Gefühligkeit des ehemaligen orthodoxen Stetljuden Eli Wiesel.
Eine letzte Erfahrung prägte sich in Levi ein. Dank seiner Ausbildung als Chemiker wurde er im Winter 1944 im Labor der Buna-Monowitz-Werke eingesetzt. Damit sein Aussehen die SS und seine zivilen Vorgesetzten nicht allzu sehr ekelte, wurde er sogar zweimal wöchentlich rasiert. Als sich Levi einmal der Arbeit wegen an eine zivile Laborantin wandte, beklagte sich diese, daß der „Drecksjude“ es gewagt habe, das Wort an sie zu richten. Das war ein paar Wochen bevor das Zivilpersonal bei Nacht und Nebel vor den näher rückenden Russen floh. Solche Erfahrungen haben Levi geprägt. In seinen Büchern hat er darüber nachgedacht, daß auch wir nachdenken und entsprechend unserer Menschenwürde handeln.
- Die Untergegangenen und die Geretteten, Hanser Verlag, 1990, Seite 82.
- Hanser Verlag, 1988.
- Hanser Verlag, 1988.
- Hanser Verlag, 1986.
Jahrgang 5/1998 Seite 246