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Friedländer, Saul

Das Dritte Reich und die Juden

Erster Band: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. Verlag C. H. Beck, München 1998. 458 Seiten.

Der 1932 in Prag geborene Autor überlebte die Schoa in einem katholischen Kloster in Frankreich. Der Fluchtversuch seiner Eltern scheiterte an der Schweizer Grenze und endete in einem Vernichtungslager. In der vorliegenden Arbeit gibt Friedländer einen Bericht sowohl über die politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten als auch über die Einstellungen, Reaktionen und das Schicksal der Opfer. (11) Dabei stellt der Autor bewußt „völlig verschiedene Ebenen der Realität nebeneinander“ (16). Mosaikartig entsteht so ein Gesamtbild von großer Eindringlichkeit, das die subjektive Wertung weitgehend dem Leser überläßt. Friedländer läßt keinen Zweifel an dem nicht wegzudenkenden fanatischen Judenhaß Hitlers als der Hauptantriebskraft, obgleich Hitler es immer wieder verstand, pragmatisch zurückhaltend zu taktieren, wie etwa in der Reichstagsrede am 30. Januar 1939 (331 ff.). So traten am Vorabend des Krieges neben „offenkundigen taktischen Zielsetzungen ... einige andere Gedanken zutage. Es war kein Vernichtungsprogramm ausgearbeitet worden. Es ließen sich keine klaren Intentionen erkennen. Ein bodenloser Haß und ein unstillbarer Durst nach einer Reihe von immer härteren Maßnahmen gegen die Juden lagen ... immer sehr nahe an der Oberfläche. Was auftauchte, war die Vision eines erlösenden Endkampfes zur Errettung der arischen Menschheit“ (338).

Angesichts der aktuellen Auseinandersetzung mit den vatikanischen „Überlegungen zur Schoa“ und der gefährlichen These von der Nichtverantwortlichkeit der „Kirche“ für den neuheidnischen Rassenantisemitismus der Nazis erscheint mir der Friedländersche Begriff des Erlösungsantisemitismus und das dazugehörige Kapitel (87 ff.) besonders wichtig. Friedländer sagt zu Recht, daß das Christentum die Juden in Dogma, Ritual und Praxis mit einem anscheinend unauslöschlichen Stigma brandmarkte. Im gesamten 19. sowie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts behielt der christlich-religiöse Antisemitismus in Europa und ganz allgemein in der westlichen Welt zentrale Bedeutung (97). Die Stellung der Juden in diesem wahnhaften Universum läßt sich nur durch die Verwurzelung des Antisemitismus in der christlichen Tradition erklären (99). Für Hitler, für den „Christus der größte Vorkämpfer im Kampfe gegen den jüdischen Weltfeind“ war (117) und der ja in dem Wahn lebte, ein „Werk des Herrn“ zu vollziehen, galt: Verdammnis oder Erlösung (115).

Neben dem von protestantischer Seite angeführten Theologen Adolf Schlatter hätte durchaus noch Gerhard Kittel genannt werden können, der zwar alle Ausschreitungen gegen Juden ablehnte, aber schon 1933 für einen „Gaststatus“ der Juden eintrat. Zur Geschichte der Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler vom Juli 1936 und der Rolle, die ihr Rechtsberater, Landgerichtsdirektor a. D. (nicht: Rechtsanwalt) Friedrich Weissler, ein konvertierter „Volljude“, bei deren Veröffentlichung gespielt haben soll (208), sei auf die zutreffendere Darstellung bei Röhm/Thierfelder „Juden – Christen – Deutsche“ Bd. 2/I, 165 ff. hingewiesen. Leider hat der Autor von diesem so wichtigen Werk (bis 1995 Bd. 3/I erschienen) nur den 1. Bd. aufgeführt und benutzt, obwohl sonst die Literatur bis 1997 erfaßt ist. Das Urteil des Autors über die Mehrheit der deutschen Gesellschaft fällt trotz Ausdifferenzierung antisemitischer Erscheinungsformen im Grunde nicht günstiger aus als bei Goldhagen. „Erbarmungslose Hartnäckigkeit“ prägte die antijüdischen Bemühungen in Partei und Staatsapparat, und „die deutsche Gesellschaft als Ganze lehnte die antijüdischen Initiativen des Regimes nicht ab“, sondern akzeptierte sie (348). Auf die Fortsetzung dieses bedeutsamen Buches zu diesem Thema dürfen wir gespannt sein. Es ist ihm eine große Leserschaft zu wünschen, besonders in der jüngeren Generation, die keinerlei Vorstellungen mehr haben kann von den verbrecherischen Wahnideen jener Zeit, die ihre Virulenz noch keineswegs völlig eingebüßt zu haben scheinen.

Hans L. Reichrath


Jahrgang 5/1998 Seite 295



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