Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition und ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1997. XII und 455 Seiten.
Der Titel — ein Zitat von Karl Barth — ist provozierend, stammt er doch von einem theologischen Lehrer, der die fundamentale Bedeutung des Judentums für das Christentum zwar deutlich geahnt, daraus aber keine positiven Konsequenzen gezogen hat. Erst nach der Schoa bemühten sich seine Schüler, eine Basis des Vertrauens zu schaffen und nach verschütteten Gemeinsamkeiten zu suchen. Nach einem Halbjahrhundert solchen Nachdenkens gibt es zwar manche kirchlich-theologische Äußerung, aber in der Praxis christlich-jüdischer Zusammenarbeit hat sich nur wenig verändert.
Manuel Goldmann zeigt, daß Judentum kein defizitärer Modus des Christentums, sondern eine eigenständige Größe mit eigener Geschichte und reicher Tradition ist. Juden leben anders als Christen, darum denken sie auch anders. Bei diesen Unterschieden setzt Goldmann an und zeigt die bei Juden und Christen grundsätzlich unterschiedlichen Strukturen. Denn Dialog kann langfristig nur gelingen, wenn das Anderssein der Anderen ernst genommen wird. In einer Einführung in die Judaistik werden zunächst Grundbegriffe des Judentums erklärt und zentrale Texte aus Talmud und Midrasch analysiert. So ersteht ein eindrückliches Bild jüdischer Denkart. Es wird gezeigt, daß Offenbarung wesentlich dynamisch ist. Jeder ist verpflichtet, seine Erfahrung einzubringen.
Im Zentrum des Buches steht eine Analyse der strukturellen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum, ausgehend von Thesen des jüdisch-orthodoxen amerikanischen Gelehrten Michael Wyschogrod (The Body of Faith, 1983). Dieser stellt dem griechisch-philosophischen Denken christlicher Theologie, das nach universaler Erkenntnis und der einen Wahrheit strebt, die hebräisch-biblische Pluralität und das jüdische Wissen um die Begrenztheit allen menschlichen Verstehens gegenüber. Schon früher haben Isaak Heineman (1876-1957) und Max Kadushin (1895-1980) in diesem Zusammenhang von „organischem Denken“ geschrieben, das sich immer auf die überschaubare Erfahrungswelt bezieht. Weil aber alle Wahrnehmung subjektiv ist, können nur verschiedene, teils gar gegensätzliche Aspekte der Wirklichkeit erfaßt werden. Das Ziel ist daher nicht vollständiges Erkennen, sondern vielmehr eine Offenheit, die Widersprüche stehen läßt, weil gerade dies der Vielfalt der Erscheinungen angemessen ist.
An drei gegensätzlichen Begriffspaaren versucht Manuel Goldmann zentrale Themen jüdischen und christlichen Selbstverständnisses auf den Punkt zu bringen. Dieser Teil des Buches ist wohl am unbequemsten zu lesen, weil er jüdische Kritik am Christentum ernst nimmt und prüft. Der Darstellung von Strukturverschiedenheiten folgt immer die Frage nach deren Ursachen, Hintergründen und nach dem hermeneutischen Ertrag. Anschaulich gemacht wird das Ganze durch den Vergleich zentraler Dokumente aus beiden Traditionen. So werden das Schma Jisrael und das Credo einander gegenüber gestellt, sowie die Mischna und das Neue Testament, die Mischne Tora des Maimonides und die Summa des Thomas von Aquin, die „Rabbinerbibel“ und die fast zeitgleich erschienenen Loci Communes Melanchthons, der Schulchan Aruch und das Konkordienbuch.
Das erste Begriffspaar, Tora und Logos, behandelt die verschiedenen Denkformen. Während für Christen die Systematik zentral ist, ist im Judentum jeder Einzelne eigenständig am Mitdenken beteiligt. Das zweite Begriffspaar, Mizwa und Kerygma, veranschaulicht die jeweilige Praxisorientierung, vor allem den recht unterschiedlichen Stellenwert des alltäglichen Lebens für die Erkenntnis von Wahrheit. So fällt etwa auf, daß sowohl im christlichen Apostolicum als auch im nizänischen Bekenntnis Jesu Lebensjahre ebensowenig erwähnt werden wie die praktisch-ethischen Konsequenzen, die sich aus den systematisch entfalteten Dogmen ergeben. Das Schma Jisrael dagegen ist im wesentlichen Gebotsparänese: die Einheit Gottes wird in einem knappen Satz festgestellt, und schon der folgende Vers behandelt die Einlösúng dieses Grundsatzes im Alltag.
Im dritten Begriffspaar, Ge‘ula und Soteria, geht es um die beiderseitigen soteriologischen Perspektiven. Dabei betont Goldmann vor allem die elementare jüdische Glaubensgewißheit gegenüber Luthers verzweifelter Suche nach einem „gnädigen Gott“. Die im Bund mit Gott gegründete Gewißheit gibt Juden die nötige Kraft, die Unerlöstheit der Welt auszuhalten, wo Christen eher dazu neigen, diese Wirklichkeit zu ignorieren oder zu verleugnen.
Mit seiner teils schonungslosen, aber nie polemischen Gegenüberstellung von Judentum und Christentum hat Goldmann die Grundlage für einen partnerschaftlichen Dialog geschaffen, in dem nicht mehr nur das Gemeinsame verhandelt wird, sondern auch die Unterschiede ausgehalten werden können. Abschließend stellt der Autor ein Bibelzitat in der Weise des Midrasch in einen neuen Zusammenhang: Das Judentum, der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.
Reinhold Mayer
Jahrgang 5/1998 Seite 297