Roman. Aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1998. 127 Seiten.
Ein schmales, unscheinbares Buch liegt hier vor, dessen Lektüre ein hohes Maß an Konzentration erfordert. Ganze Passagen sind wieder und wieder zu lesen, um die Gedanken in ihrer Tiefe auszukosten. Am Ende bleibt allein die Suche eines Davongekommenen — die Suche nach Orten, nach Geschichte, nach einem Weg in einer unübersichtlichen Zeit. Für Imre Kertész ist Auschwitz das Menetekel. Ohne Auschwitz, sagt er, wäre er als Schriftsteller gar nicht vorhanden. Das macht seine Existenz so tragisch und absurd zugleich. „Ich bin das unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist das Gebrandmarktsein.“ Kertész hat erneut einen Einblick in seine Welt zugelassen. „Momentaufnahmen des belichteten Gedächtnisses“ nennt er diese Beobachtungen, die Fortsetzung seines vor fünf Jahren erschienenen „Galeerentagebuchs“ mit ausgewählten Aufzeichnungen aus dreißig Jahren (1961 bis 1991). „Ich — ein anderer“ bringt Ausschnitte aus den Jahren danach, bis 1995, die vielfach als Jahre eines Neubeginns verstanden wurden. Doch Kertész ist viel zu skeptisch (und melancholisch), um an einen wirklichen Wandel, eine Besinnung des Menschen, zu glauben. Er beobachtet das genaue Gegenteil. In Ungarn sei der Mensch mit seinen Schwächen und Abgründen noch kenntlicher geworden. Der Totalitarismus hat ganze Arbeit geleistet. Der Mensch ist sich selbst entfremdet und weiß nicht mehr, was sein Dasein prägen könnte. Die kapitalistische Gegenwart zeichnet er als wackliges Kartenhaus. Ein Windhauch genügte und Anarchie wäre die Folge. Und er wundert sich über den Hochmut der Selbstgewissen, der Täter also.
Kertész‘ Gedankenwelt, seine Existenz als Schriftsteller, ist allein vor dem Hintergrund von Auschwitz zu verstehen. Noch wichtiger ist ihm freilich die Erkenntnis: Unser Zusammenleben ist nur vor diesem Abgrund zu erfassen. „Die moderne Mythologie beginnt mit einem gigantischen Negativum: Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen. Vergessen wir nicht, daß man Auschwitz keineswegs wegen Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück umschlug; auch ist seit Auschwitz nichts geschehen, was wir als Widerlegung von Auschwitz hätten begreifen können.“ Der Zivilisation wurden die Richtlinien entrissen, das ist der Ausgangspunkt für Kertész‘ Denken. Und so findet er es ganz folgerichtig, eine Identität nie gefunden zu haben. Viel ist vom ,Abgrund zwischen mir und mir‘ die Rede, vom Gefühl des ,Ausgeliefertseins‘, vom ,Fremdsein in der Welt‘. Doch es bewegen ihn auch Gedanken über Liebe und Tod und den Sinn des Lebens, Fragen über sein Judentum und den ewig grassierenden Antisemitismus, Fragen, die an die Wurzel des Seins reichen. „Wovor fürchtest du dich, wo du doch weißt, daß du sterblich bist?!“ Passagenweise klingt es wie ein geistesgeschichtliches Testament — Abschied von dieser Welt, Ausblick in eine Zeit danach. Ein Buch über die Vergänglichkeit, bedrückend, entrückt, untröstlich, selten heiter, manchmal zart ironisch. Kertész erklärt seine Welt, seine Gedanken. Er gibt Erklärungen, doch alles bleibt offen, rätselhafter als zuvor.
Stefan Berkholz
Jahrgang 5/1998 Seite 305