Familien von Überlebenden der Schoa und von Nazi-Tätern. Psychosozial-Verlag, Gießen 1997. 450 Seiten.
Obgleich sich das gesellschaftliche und familiäre Gespräch über die Judenverfolgung enorm dynamisiert hat, ist die innerfamiliale Kommunikation über den Nationalsozialismus in Israel und Deutschland bis dato ein weithin unerforschtes Terrain geblieben. Der Holocaust im Leben von drei Generationen sucht diese Leerstelle zu füllen. Es sind die Resultate eines wissenschaftlichen Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur NS-bezogenen Biographie- und Familienforschung unter Leitung von Gabriele Rosenthal. Anhand von ausgewählten Fallbeispielen werden die Verarbeitung der Lebensgeschichten und der innerfamiliäre Dialog von drei Generationen in Familien von NS-Tätern sowie von jüdischen Emigranten und Überlebenden des Holocaust vergleichend untersucht.
Die Forscher gelangen zu dem Ergebnis, daß in Täter- und Opferfamilien zunächst scheinbar ähnliche psychosoziale Symptome zum Vorschein kommen: besonders starke intergenerative Identifikationen und Bindungen, Anklagen, Selbsthaß und Mechanismen der Erinnerungsabwehr, Schuldgefühle und vornehmlich institutionalisiertes Schweigen über die belastenden „Familiengeheimnisse“. Jenen analogen Symptomen weisen die Autoren allerdings grundlegend divergierende Funktionen und Ursachen zu. Diese bedingten zudem gänzlich verschiedene psychosoziale Dynamiken. Während beispielsweise der Sohn eines vermutlichen NS-Täters sich mit der eigenen potentiellen Täterschaft peinigt, die wahren Täter aber entschuldigt oder gar die wahren Opfer anklagt, kämpft die Tochter einer Schoa-Überlebenden mit ihrer unterdrückten Anklage gegen ihre Mutter, wirft ihr unterschwellig Kollaboration mit den Nazis vor und ringt deshalb mit Schuldgefühlen ganz anderer Art. Überlebende haben nicht selten Schuldgefühle, weil sie überlebt haben; ihre Nachkommen können sich schuldig dafür fühlen, daß sie nicht in der Lage sind, die Vergangenheit und das Leiden ihrer Eltern aufzuheben. Auch eine extreme Angst, ermordet zu werden, findet sich bei Kindern und Enkeln sowohl von Überlebenden als auch von Tätern. Trennungen wiederum rufen bei Opferfamilien nicht selten Todesängste hervor.
Gegensätze offenbaren sich nicht zuletzt in den dominanten Inhalten des familialen Dialogs. Treten gerade in den Familien der Überlebenden die Themen der „Stärke“ und des „Widerstandes“ in den Vordergrund, wird in Familien von Tätern die Opferrolle der Familienangehörigen strapaziert. Diese strukturellen Unterschiede zwischen Opfer- und Täterfamilien basieren der Untersuchung zufolge wesentlich auf den Familienvergangenheiten vor 1945. Zudem wurde generell die Beobachtung gemacht, daß je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, desto nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgenerationen aus. Der Aufbau der Studie erschließt sich allerdings kaum. Seine mögliche Systematik wird nicht erklärt. Der Leser fühlt sich in die einzelnen Kapitel unvermittelt ,hineingeworfen‘. Auch das Ungleichgewicht im Hinblick auf die Auswahl der dargestellten Familien — unter ihnen nur eine einzige westdeutsche bei einer insgesamt klaren Mehrheit derjenigen von Überlebenden und Verfolgten — wird nicht begründet. Darunter leidet die Überzeugungskraft des Vergleichs. Schließlich wird der Anspruch, den „konstitutiven Einfluß“ unterschiedlicher familienbiographischer Verläufe und Verarbeitungen nach 1945 in Interaktion mit der Entwicklung des jeweiligen „öffentlichen Dialogs“ zu begreifen, nicht befriedigend eingelöst. Der spezifische politisch-kulturelle Horizont in Israel, der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR wird zum Teil nur grobmaschig einbezogen. Konkrete politische Veränderungsprozesse und ihre Bedeutung für den familialen Dialog über die Vergangenheit werden kaum erfaßt. Dennoch bietet das Buch fruchtbare Einsichten, die dem künftigen Dialog der Generationen — und seiner wissenschaftlichen Reflexion — dienlich sein können.
Lars Rensmann
Jahrgang 5/1998 Seite 307