A Re-Evaluation of the Evidence, TSAJ 60. Mohr, Tübingen 1997. 232 Seiten.
Seit den Anfängen der Qumranforschung haben die Wissenschaftler die Texte aus den Höhlen am Toten Meer einerseits mit der Siedlung von Qumran verbunden, in deren unmittelbarer Nähe die meisten der Höhlen liegen. Andererseits entstand bald ein Konsens unter den Gelehrten, daß Schriften und Siedlungen mit den Essenern zu tun haben mußten. Vom römischen Gelehrten Plinius, dem jüdischen Philosophen Philon und dem jüdischen Historiker Josephus wurden die Essener in recht unterschiedlicher Weise beschrieben. Lena Cansdale versucht im vorliegenden Buch die Gründe, die zu diesen Schlüssen geführt hatten, einer Prüfung zu unterziehen und der These vom essenischen Ursprung der Schriften in Qumran eine eigene gegenüberzustellen. Ihre Argumentation ist dabei in zwei Teile gegliedert.
Im ersten Teil ihrer Arbeit befaßt sie sich mit dem Befund der antiken Texte bezüglich der Essener, den sie mit dem Inhalt der Schriftrollen von Qumran vergleicht. Dann unterzieht sie vor allem die archäologischen Forschungen von Roland de Vaux einer eingehenden Analyse. Cansdale kommt dabei zu dem Schluß, daß die Schriftrollen selbst ein weites Spektrum von Vorstellungen verraten, die nicht mit dem übereinstimmen, was die antiken Autoren den Essenern zuschreiben. Zudem verweist sie auch auf die Inhomogenität der Texte selbst. Daraus schließt sie, daß die Schriftrollen nicht von den Essenern stammen können. Dieser Befund wird für Cansdale aus der Bewertung der archäologischen Funde bestätigt. Danach ist es unwahrscheinlich, daß die Siedlung von Qumran eine monastische Siedlung zölibatärer und monastisch lebender ,Essener‘ war. Vielmehr legen neue Forschungen die Vermutung nahe, daß die Siedlung zunächst eine Festung war, die in den letzten Jh. v Chr. und im ersten Jh. n. Chr. als Handels-, Gewerbezentrum und möglicherweise als Spital gedient hat, das wahrscheinlich vom priesterlichen Jericho aus geleitet wurde. Diese engen Kontakte zur Priesterschaft von Jericho und vermutlich auch von Jerusalem war der Grund dafür, daß hier ein Teil der Bestände priesterlicher Bibliotheken in Sicherheit gebracht wurden.
Das Buch bietet einen informativen Einblick in die Diskussion um die Funde in Qumran und in die Probleme der Zuordnung der Texte vom Toten Meer. Es leidet aber vor allem im ersten literarischen Teil daran, daß es die Berichte Plinius‘, Philos und Josephus‘ als Augenzeugenberichte deutet. Roland Bergmeier hat dies in seiner Studie von 1993 zu den Essener-Berichten des Josephus widerlegt. Er hat gezeigt, daß Josephus‘ Texte zu den Essenern auf teilweise hellenistisch geprägten Quellen beruhen. Auch Hartmut Stegemanns Aufsatz zu einer modifizierten Essener-Theorie sollte in einer solchen Revision nicht fehlen. Ich hätte mir auch eine differenziertere Analyse der Texte aus Qumran erwartet, die in ihrer literarischen Eigenart nicht gewürdigt werden. Es herrscht ja seit längerer Zeit ein Konsens in der Forschung, daß die Bibliothek von Qumran auch ältere Literatur enthielt, die nicht von den Verfassern der ,Sektenschriften‘ stammten. Diese Texte hatten aber offensichtlich für die Gemeinschaft, die sie später tradierte, eine hohe Autorität. Differenzen in den Texten können deshalb auch historisch begriffen werden.
Hans A. Rapp
Jahrgang 6/1999 Seite 136