Jüdischer Dialog im frühen Mittelalter
In vielen Perioden der Geschichte herrschte eine feindliche Funkstille zwischen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung in Europa. Beide Gruppen mißtrauten einander und schotteten sich voneinander ab. Juden und Christen waren aber nicht zu allen Zeiten austausch- und kontaktlos. Es gibt historische Spuren, wonach beide Gruppen gelegentlich einiges voneinander gelernt und dadurch Nutzen für ihre je eigene Gruppe gezogen haben. Dies waren Formen eines religiösen Dialogs!1 Religiöser Dialog zwischen rivalisierenden Glaubens- und Volksgruppen beginnt dann, wenn auf beiden Seiten versucht wird, sich so zu äußern, daß die eigenen Gläubigen und die Gegner dies verstehen und teilweise „Ja“ dazu sagen können, ohne ihre eigene Glaubenstradition zu desavouieren.
Lassen wir die bekannten und berüchtigten christlichen Unheilsmanipulationen im frühen Mittelalter — Zwangsbekehrungen, antijüdische Agitationen, Verleumdungen, Vertreibungen, Ermordungen usw. — beiseite und wenden wir uns statt dessen der geistig-religiösen Aufmerksamkeit zu, die jüdischerseits etwa im 9./10. Jahrhundert dem Christentum entgegengebracht worden ist. Wir besitzen deutliche Zeugnisse darüber, daß jüdische Gelehrte und Prediger damals christliche Glaubensüberzeugungen kannten und sie für die eigenen Volks- und Glaubensgefährten zur Anwendung brachten. Dadurch leisteten sie einen Beitrag für den eigenen Unterricht und gegen jüdische Klischeevorstellungen vom Christentum. Sie führten also einen Dialog mit dem gegnerischen Christentum und über das Christentum.
Das Gleichnis vom Holz im Badehaus steht uns als ein Beispiel unter anderen zur Verfügung. Es stammt aus dem Midrasch „schemôt rabba“, einem nachtalmudischen jüdischen Tora-Auslegungswerk. Darin finden sich mehrere Gleichnisse und Midraschim, die etwa aus der Zeit Karl des Großen stammen. Unser Gleichnis ist wohl in Südfrankreich entstanden, als die Karolinger Kontakte mit den irakischen Herrschern und dem babylonischen Judentum anknüpften und damit eine ausgedehnte, sich glücklich entfaltende jüdische Einwanderung nach Südeuropa förderten. Das Gleichnis vom Holz im Badehaus wurde zur Zeit des Pesach-Festes in Zusammenhang mit der Pesach-Lesung Ex 12 von einem jüdischen Darschan (Prediger, Tora-Ausleger) erzählt.2 Es lautet:
„Gleich einem schönen Holz, das in einem Badehaus eingebaut worden war. Der Provinzgouverneur trat ein, um zu baden, und alle seine Diener mit ihm. Sie trampelten auf dem Holz herum. So auch alle Dörfler. Jeder einzelne von ihnen begehrte, darauf zu treten. Nach einiger Zeit schickte der König seine Büste in diese Provinz, damit man ein Abbild (eine Ikone) für ihn mache. Aber man fand kein (geeignetes) Holz, außer dem im Badehaus. Da sagten die Künstler zum Provinzgouverneur: Wenn du das Abbild aufstellen willst, dann hole das Holz aus dem Badehaus, denn es gibt kein besseres. Man holte es, richtete es gebührend her und reichte es an einen Künstler weiter. Dieser gravierte das königliche Abbild ins Holz hinein und stellte die Ikone im Palast auf. Dann kam der Provinzgouverneur und verneigte sich davor, ebenso der Herzog, der Befehlshaber, der Präfekt, die Soldaten, das Volk — überhaupt alle. Da sagte der Künstler zu ihnen: Gestern seid ihr auf diesem Holz im Badehaus herumgetrampelt! Und jetzt verneigt ihr euch davor!? Sie sagten zu ihm: Wir verneigen uns nicht des Holzes wegen vor ihm, sondern wegen der Büste des Königs, die darauf gezeichnet ist! — So sagten die (feindlichen) Könige: Bis heute haben wir Israel auf verbotene Art behandelt; es heißt nämlich: ,...zum verachteten Menschen, dem Abscheu des Volkes‘ (Jes 49,7). Jetzt aber verneigen wir uns vor Israel! Da sagte der Heilige, gelobt sei er, zu ihnen: Ja, wegen meines Namens, der auf sie geschrieben ist! Es heißt nämlich: ,Um des Ewigen, des Getreuen willen‘ (Jes 49,7). So sagt auch Mose: ,Sehen werden es alle Völker der Erde, daß der Name des Ewigen über dir genannt wird‘ (Dtn 28,10).“
Gleichnisse — im Neuen Testament und bei den Rabbinen — sind profane Kurzerzählungen mit einer überraschenden und geistreichen Wende. Die vom Erzähler erdachte Kurzgeschichte (Maschal) entpuppt sich als Schlüssel zum Verständnis des in der biblischen Offenbarung Gemeinten (Nimschal). Das Gleichnis vom Holz im Badehaus drückt das religiöse und soziale jüdische Selbstverständnis in literarisch und theologisch großartiger Weise aus. Das jüdische Volk ist eine Ikone, eine geschnitzte Statue, eine Repräsentation Gottes. Die Größe und Barmherzigkeit des Gottes Israels schimmert durch dieses Volk zu den übrigen Völkern hindurch. Statt daß die „Völker der Welt“ das Gottesvolk Israel als Wegweisung und Pforte hochachtungsvoll benützen, um auch selbst zu Wahrheit und Glück zu gelangen, zertrampeln sie die Ikone Gottes und beflecken sie mit ihrem eigenen Schmutz. Sie benützen Israel als Abfalleimer. Deshalb versteckt sich Gott hinter diesem Volk. Aber dies wird sich — so die jüdische Hoffnung — in der Endzukunft grundlegend ändern. Eines Tages werden die Völker erkennen, daß ihre Judenfeindschaft zu ihrer eigenen Blindheit und Verlegenheit wird. Und sie werden den Gott Israels gleichsam durch dieses Volk hindurch zu verehren suchen. Um dies zu können, müssen sie das jüdische Volk in seiner Gottebenbildlichkeit — als Ikone Gottes — anerkennen. Dadurch wird ihnen Einsicht, Verzeihung und Rettung gewährt werden.
Dem frühmittelalterlichen jüdischen Gleichniserzähler war die im christlichen Westen und Osten aufblühende christliche Bilderverehrung samt ihren geistig-religiösen Hintergründen bekannt. Er stellte sie in den Dienst der jüdischen Verkündigung. Außerdem hat er wohl auch die Kapitel 9-11 des neutestamentlichen Römerbriefes gelesen. Das Gleichnis vom Holz im Badehaus liest sich wie ein auf das jüdische Volk hin umgedeuteter Abschnitt von Röm 11,25-36. Der Verfasser legt diese Verse für sich und seine jüdische Gemeinde etwa so aus: „Verstockung liegt auf einem Teil der Weltvölker, bis die Zahl Israels voll sein wird. Dann werden auch Menschen aus allen Völkern gereu werden, wie es in der Schrift ähnlich heißt: ,Vom Zion her wird der Retter kommen. Er wird die Gottlosigkeit von den Völkern entfernen. Das ist der Bund, den ich ihnen gewähre, wenn ich ihre Sünden wegnehme‘ (Jes 59,20 f.). Von der Tora her sind die Weltvölker Feinde Gottes, und dies um Israels willen. Von ihrer Mit-Erwählung her sind sie aber von Gott mitgeliebt, und dies um Abrahams willen ...“ (vgl. Röm 11,25-28). Der Text könnte noch weiter im Sinne des frühmittelalterlichen, frühjüdischen Lehrers spiegelverkehrt gedeutet werden.
Das Gleichnis vom Holz im Badehaus ist ein wichtiger frühmittelalterlich-jüiischer Dialogbeitrag zur christlichen Verkündigung vom Endheil der Christusgläubigen und der nicht-christusgläubigen Jüdinnen und Juden. Es beleuchtet die neutestamentliche Verkündigung im Geiste echter Dialogik. Die Paulinische Verkündigung wird jüdisch-dialogisch ergänzt, ohne den christusgläubigen Menschen auch nur einen Hauch der Hoffnung zu entreißen. Hier ist jede christliche Apologetik sinnlos. Die Optik des Paulus in Röm 11 ist ähnlich grandios wie jene des jüdischen Gleichniserzählers. Im Grunde kommen beide Visionen auf dasselbe heraus: Die Völker und Israel werden am Ende der Tage kraft der Barmherzigkeit Gottes in Gott hinein gerettet werden. Jedes Abwägen von eventuellen Bevorzugungen des einen Partners ist sinnlos. Das Endheil betrifft Israel und die Weltvölker (vgl. Jes 49,6). Daß das jüdische Volk dabei als zu Gott hin durchsichtige Ikone Vermittlerfunktionen übernimmt, ergibt überhaupt keinen Streitpunkt. Das Heil geht ja letztlich von Gott aus, nicht vom jüdischen Volk und nicht von der Kirche. Die Juden können wegen der christlich-antijüdischen Geschichte kaum an Christus glauben. Dies wird von ihnen auch nicht gefordert. Von den Weltvölkern wird andererseits auch nicht verlangt, daß sie sich beschneiden lassen und zum Judentum konvertieren.
Es gibt noch andere Gleichnisse — und auch Midraschim und Halakhôt —, die als Beweisstücke jüdischen Nachdenkens über gegnerisch-christliche Lehren gelten können. Das Gleichnis von den Pächtern in ShemR 27,9 ist eine sehr geschickte Indienstnahme des neutestamentlichen Pächter-Gleichnisses in Mt 21,28-32. Die Pointe des rabbinischen Gleichnisses geht in die gleiche — jedoch jüdisch spezifizierte — Richtung: Die Bundestreue des Volkes Gottes wird durch seine Bereitschaft, die Tora ohne Wenn und Aber zu tun, konstituiert.3
Auffallend ist auch das sich im Midrasch zum ersten Buch Moses findende Gleichnis vom Weizen und der Spreu (BerR 83,5).4 Dieses im 3./4. Jahrhundert verfaßte Gleichnis ist bis in den Wortlaut hinein dem neutestamentlichen Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13,24-30.36-43) sehr ähnlich. Vieles von dem uns zur Verfügung stehenden literarischen Material aus der Spätantike und dem Mittelalter spricht gegen einen jüdisch-theologischen Isolationismus gegenüber dem Christentum.
Heutzutage wird oft gesagt, der jüdisch-christliche Dialog habe erst im späten 20. Jahrhundert nach der Schoa begonnen. Das stimmt leider zum größten Teil. Vor der Kenntnisnahme des entsetzlichen Vernichtungsprogramms der Nazis war auf christlicher Seite kaum ein Sich-Kümmern um Not, Schicksal und Todesbedrohtheit der jüdischen Brüder und Schwestern vorhanden. Von jüdischer Seite erklangen vor dem Greuelereignis der Schoa aus verschiedenen Gründen auch nur wenige Hilferufe an die christlichen Gemeinschaften.5 Die höchste Stufe des Dialogs wäre die gegenseitige Hilfe gewesen. In diesem Sinn können wir nicht von einem jüdisch-christlichen Dialog vor der Schoa sprechen. In einem anderen, dünneren Sinn aber doch! In den meisten Zeiten des Christentums und des Judentums hat es sporadisch ein gegenseitiges Hinüberschauen gegeben, um für die Verkündigung an die eigene Glaubensgemeinschaft neue Impulse und Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Zu Recht wurde dabei stets von der jüdischen Seite aus darauf geachtet, daß keine aufweichenden christlichen Gedanken und Gebräuche in die jüdischen Gemeinschaften eindringen konnten!
Besonders das hier dargelegte Gleichnis vom Holz im Badehaus ist ein Hinweis dafür, daß in Zukunft nicht nur Studien über jüdisch-christliche Zerwürfnisse gemacht werden sollten. Vielmehr müßte auch die Geschichte der gegenseitigen positiven Beeinflussungen geschrieben werden. Es gibt leider die Geschichte des christlichen Antijudaismus, dessen Gift sich in die Schoa hineinmischte. Es gibt aber auch die noch zu wenig beachtete Geschichte des christlich-jüdischen Austausches, die sich auch heute weiterentwickeln muß. „Das Jüdische am Christentum“6 gerät sonst wieder in Gefahr, versteckt und verschlossen zu werden. Auch die mit dem Christentum gemeinsamen Elemente im Judentum brauchen heute Auffrischungen.
- Vgl. FrRu5(1998)287-289, Gaby Knoch-Mund, Disputationsliteratur als Instrument antijüdischer Polemik, Gütersloh 1996.
- Das Gleichnis ist interpretiert in: Clemens Thoma/Hanspeter Ernst, Die Gleichnisse der Rabbinen III: Von Isaak bis zum Schilfmeer: BerR 63-100; ShemR 1-22, JudChr 16, Bern 1996, 236-240.
- Das rabbinische Gleichnis von den Pächtern wird demnächst im vierten Gleichnisband von Thoma/Ernst publiziert werden.
- Vgl. Thoma/Ernst, op. cit. (Anm. 1), 86-91.
- Die eingeengte Situation wird z. B. aus den erzählten jüdischen Schicksalen in dem von Ingrid Wiltmann herausgegebenen Buch, Lebensgeschichten aus Israel, Zwölf Gespräche, Frankfurt 1997, gut verständlich.
- So lautet der Titel des Buches von Norbert Lohfink, Herder, Freiburg i. Br.1987.
Jahrgang 6/1999 Seite 161