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Gabrielle Oberhänsli-Widmer

Jerusalem als Frauenfigur und heiliger Ort in der hebräischen Literatur

Die Stadt Jerusalem ist von immerwährender Aktualität — politisch, religiös, literarisch. 1996 hat Jerusalem seinen dreitausendsten Geburtstag gefeiert, ausgehend von der biblischen Erzählung von Davids Eroberung der Jebusiterstadt (2 Sam 5,6-12). In der Jerusalem-Literatur findet man kaum neutrale oder emotionslose Beschreibungen. So sieht das talmudische Schrifttum Jerusalem als Licht und Glanz der Welt. Der zeitgenössische Dichter Jehuda Amichai dagegen sagt von seiner Heimatstadt: „Jerusalem ist eine offene Wunde, die nicht heilen will.“ Wohl überwiegen die Superlative und Hyperbeln — Jerusalem als die schönste, heiligste, erhabenste aller Städte —, doch die rhetorische Figur ist das Oxymoron, die Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe: Jerusalem als die ewig unerreichbare Heimat, als feindselige Geliebte, als fataler Talisman, die literarische Umsetzung des religionsphänomenologischen Topos vom heiligen Ort. Und charakteristisch für den heiligen Ort ist nun eben seine Ambivalenz, denn er erweist sich als heilsbringend und gefährlich zugleich.

Die Anfänge des literarischen Jerusalem in der Hebräischen Bibel

Prophetische Texte, allen voran aus Ezechiel, Deutero- und Tritojesaja, weisen der hebräischen Literatur auf Jahrtausende den Weg. Jerusalem wird zur Frauengestalt personalisiert: Mutter und Tochter, Braut und Geliebte, ewig einzige Gattin und verstoßenes Weib, Witwe und Unfruchtbare, Königin und Hure um nur ein paar Aspekte aufzuzählen. Die markantesten Texte zur Frau Zion fallen in die Zeit des babylonischen Exils. Bemerkenswert ist, wie sich die genannten Frauenrollen nach den Kriterien von Raum und Zeit ausrichten. So wütet insbesondere Ezechiel, der anfangs des 6. Jahrhunderts v. Chr. unter den Verbannten in Babylon gewirkt, den Ereignissen in Jerusalem jedoch noch beigewohnt hatte, gegen Jerusalem — von Gott selbst zur Braut geschmückt — als undankbarste aller Bräute und Buhlerin der übelsten Sorte (Ez 16). Anstatt sich allein auf den einen Gott zu verlassen, war das Südreich Vertragsbündnisse mit benachbarten Staaten eingegangen und auch deren Götterkulten nicht abgeneigt gewesen. Bei Deuterojesaja beginnen sich die negativen Bilder ins Positive zu wenden. Die prophetische Botschaft kreist nicht mehr um Schuldzuweisung, sondern um Sehnsucht und Hoffnung: Gott holt seine verstoßene Gattin (Jes 50,1) zurück, die Unfruchtbare empfängt (Jes 49,21), und Frau Zion kleidet sich in die erlesensten Gewänder (Jes 52,1). Das 54. Kapitel des Jesajabuches verdichtet alle Facetten der weiblichen Erniedrigung in ihrer Wendung zum Guten und gipfelt in Aussagen, daß selbst die Fundamente der Stadt aus Saphiren und Malachiten bestehen werden (Jes 54,11).

Zwei Punkte erscheinen besonders bemerkenswert. Erstens: Jerusalem ist nicht einfach ein Territorium mit der Summe seiner Einwohner, sondern vielmehr ein eigenständiges Wesen, das eine je eigene Beziehung hat, einerseits zu den Menschen, andererseits zu Gott. Und zweitens: Mit zunehmender räumIicher Distanz zu Zion verklärt sich der Blick der biblischen Sprecher, so daß sie in der Stadt nur noch die wiedererhöhte Gattin Gottes sehen. Während Jeremia, vor Ort, der Stadt als der erniedrigtesten aller Frauen das Gericht androht (Jer 4,11-31), singt der Psalmist an den Flüssen Babels sehnsuchtsvoll von seiner Geliebten: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren“ (Ps 137,5). Dieser Psalmvers klingt denn auch wie ein Leitmotiv durch die hebräische Jerusalem-Lyrik. Die beiden gegensätzlichen Konzepte, daß Gott selber das Strafgericht über seine Frau bringt und daß er sie wieder aus dem Staube erhebt, sind in ihrer literarischen Durchdringung allerdings nicht immer auflösbar. Die Lösung der Spannung, vor allem bei den späten Propheten, führt in die Eschatologie: Jerusalem als gebeugtes Weib, das am Ende der Zeiten in voller Schönheit aufleuchten wird.

Diese verklärte Vision Zions mündet aus der biblischen direkt in eine talmudisch-midraschische Jerusalem-Vorstellung: das himmlische Jerusalem. Das eschatologische und das himmlische Jerusalem liegen dabei in der gleichen Traditionskette wie das ,neue Jerusalem‘ der neutestamentlichen Johannes-Offenbarung (Offb 21). Nach den immer wieder enttäuschten messianisch-eschatologischen Erwartungen mit ihrem traurigen Höhepunkt im Bar-Kochba-Krieg projizieren die spätantiken jüdischen Weisen die vollendete Stadt nicht mehr in eine ferne Zeit, sondern in den einzigen ihnen verbleibenden Raum: Das himmlische Jerusalem — schon vor der Schöpfung geschaffen — liegt dem irdischen direkt gegenüber und ist mit ihm aufs engste verquickt. Das talmudisch-aggadische Schrifttum forciert die Superlative noch massiver, gleichsam als literarische Kompensation für die Zerstörung von Stadt und Tempel im Jahre 70 n. Chr. und die damit bedingte Trennung im Diaspora-Dasein. Nicht nur die Fundamente sind jetzt aus Edelsteinen (vgl. Jes 54,11), sondern die ganze Stadt besteht aus Juwelen und Perlen (PesK 137a). Jerusalem wird zum Licht der Welt, zum Inbegriff der Pracht. Im 2. Jahrhundert n. Chr. prägt Rabbi Akiba den Ausdruck des ,goldenen Jerusalem‘ (bNed 50a). Die Mischna erklärt Jerusalem zum Ort der Wunder und Weltwunder (bAv V,8). Unüberbietbar in seiner Verherrlichung ist der talmudische Satz: „Zehn Maße an Schönheit kamen vom Himmel herab, neun davon nahm Jerusalem, eines nur blieb für den Rest der Welt“ (bQid 49b).

Solche midraschischen Überhöhungstopoi hallen anschließend durch die hebräische Jerusalem-Literatur vom Mittelalter bis in die Neuzeit, wobei als wichtigste Gattung die Pijutim, die synagogalen Gedichte, zu nennen sind. Die Reflexion über die Heilige Stadt hat ihren festen Sitz in der Liturgie mit Tischa be‘Av, dem Fasttag zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels. Dissonanzen in die Zion-Idylle der Klagelieder bringen die Reiseberichte der Pilger über Jerusalem als ein doch recht provinzielles Dorf in den judäischen Bergen.

Neuzeitliche Jerusalem-Werke

„Ahavat Zijon“, die Liebe zu Zion, verfaßt von dem jüdischen Aufklärer Abraham Mapu 1853 in Wilna — sozusagen in sicherem Abstand zu Jerusalem — gilt als der erste moderne hebräische Roman. Er schildert die Epoche der biblischen Könige Ahas und Hiskija gegen Ende des 8. Jahrhunderts v Chr. und die Belagerung Jerusalems durch Sanherib. Der Plot läßt sich kurz so umreißen: Zwei Freunde versprechen sich, daß ihre Kinder, Tamar und Amnon, dereinst heiraten sollen. Nach zahlreichen, oft unmotivierten Komplikationen und Verwechslungen heiraten sie, Jerusalem wird befreit. Unschwer lassen sich in dem von der Romantik beeinflußten Roman allegorische Züge erkennen. Tamar, die Braut, symbolisiert Zion, während der Bräutigam Amnon alle Züge eines messianischen Davididen trägt. In eschatologischer Manier gehen denn auch die Heimführung der Braut Tamar und die Befreiung Jerusalems Hand in Hand. Der biblisch bedeutungsvolle ,dritte Tag‘ als Terminus der Wende zum Guten bringt auch hier den Umschwung. Der Zeitpunkt der Befreiung fällt auf das Pascha-Fest, das Erlösungsdatum schlechthin. Sprachlich betrachtet ist ,Die Liebe zu Zion‘ ein einziges biblisches Patchwork, und so erstaunt es kaum, daß insbesondere Tamar ganz in die Metaphorik biblischer Zionspsalmen und Prophetenworte eingekleidet ist. Entsprechend Mapus Schwarzweißmalerei ist es beinahe überflüssig zu sagen, daß die Braut Tamar — und damit Jerusalem, als reinste und strahlendste Braut — nur in den vorteilhaftesten Posen auftritt.

Mapus nationales Epos hatte enormen Erfolg und trug im osteuropäischen Judentum wesentlich zum Aufstieg des Zionismus bei. Hundert Jahre später hatte sich die Situation völlig verändert. Mit den seit 1881 einsetzenden Einwanderungswellen und der Gründung des Staates Israel (1948) wird Jerusalem wieder eine jüdische Stadt. 1952 verfaßte der Literatur-Nobelpreisträger Samuel Josef Agnon seine wohl bekannteste Kurzgeschichte „Tehilla“ (Gotteslob). Im Gegensatz zu den früheren Dichtern lebt Agnon, zwar noch in Galizien geboren, bereits über dreißig Jahre in Jerusalem, als er „Tehilla“ entwirft. Die Literaturkritiker haben sich mit „Tehilla“ außerordentlich schwer getan und die Titelfigur mehrfach allegorisch gedeutet.

Tehillas Samaritertätigkeit in den Gassen Jerusalems spielt sich in der britischen Mandatszeit ab. „Es war einmal eine alte Frau in Jerusalem. Eine so schöne Frau habt ihr euer Lebtag nie gesehen. Sie war gut und weise und anmutig und demütig. Der Glanz ihrer Augen verhieß Nachsicht und Güte, die Falten ihrer Wangen Segen und Frieden.“ Erst kurz vor ihrem Tod offenbart Tehilla dem Erzähler, daß sich hinter der Fassade ihrer abgeklärten Heiterkeit die Tragik einer zerstörten Vergangenheit verbirgt. In der polnischen Heimat hatten ihre Eltern die Verlobung mit dem Jugendfreund Schraga kurz vor der Hochzeit aufgelöst, weil die Familie des Bräutigams der damals noch stark angefeindeten Gemeinschaft der Chassidim angehörte. Dabei hatten die Eltern es unterlassen, dem Bräutigam die traditionelle Slicha, das religiöse Entschuldigungsschreiben für die Verlobungsauflösung, zukommen zu lassen. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß der verstoßene Schraga dem Chassidismus bald darauf den Rücken kehrte, während Tehillas Mann sich immer mehr von den Chassiden angezogen fühlte. Als die Kinder Tehillas dann der Reihe nach sterben, sieht sie darin die Strafe des Himmels für die nie geschriebene Slicha. Obwohl Schraga seit dreißig Jahren tot ist, formuliert der Ich-Erzähler auf Tehillas Drängen eine Slicha, die sie dann mit in ihr Grab nimmt.

Ein nicht unbedeutender Metaphernstrang rechtfertigt eine Interpretation „Tehillas“ als allegorische Figur Jerusalems. Da ist nicht nur ihre Schönheit und das Gerücht, daß sie Generationen älter sei als die Ältesten Jerusalems. Da ist vor allem auch die Beschreibung ihres Schicksals, das an die biblischen Klagelieder anklingt: „Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt! Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern ...“ (Klgl 1,1). Wenn von den ,unbezwingbaren Augen Jerusalems‘ gesprochen wird und Tehillas Augen einen Frevler bändigen, so legt uns Agnon unmißverständlich nahe, „Tehilla“ nicht zuletzt auf ihre Jerusalem-Symbolik hin aufzuschlüsseln. Dabei ist diese Jerusalem-Figur, ähnlich wie im Alten Testament, eine eigenständige Gestalt, die einerseits für ihre Bewohner sorgt, andererseits ein Spielball Gottes ist, denn Tehilla repräsentiert auch den heiligen Ort schlechthin.

Insofern scheint sich Agnons Jerusalem-Gestalt gar nicht so sehr von der platten Tamar aus Mapus „Liebe zu Zion“ zu unterscheiden. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn gerade im Vergleich zu Mapu beginnt die ikonenhafte Figur Risse aufzuweisen. Hinter Tehillas anfänglicher Fassade von heiler Glaubenswelt zeichnen sich mehr und mehr Skeptizismus und Indeterminismus ab. Trotz ihrer unbedingten Ergebenheit an den barmherzigen Gott legt sie uns die Frage nahe, ob da nicht ein Zyniker am Werk sein müsse, der die Sünde der Eltern an ihr und an ihren Kindern ahndet. Wer sich am Anfang der Erzählung an Tehillas Licht erwärmen wollte, erkaltet zum Schluß. Agnons Erzählung zeigt — allerdings recht versteckt — einen Bruch in der Jerusalem-Gestalt. Während bei Mapu der Erzähler aus weiter Ferne Zions Schönheit besingt, wird die Frauengestalt Agnons mit einem unmittelbaren Gegenüber konfrontiert. Unter dem skeptischen Blick des säkularen Ich-Erzählers zerbröckelt das integere Bild Tehilla-Jerusalems. Die Distanz zum heiligen Ort garantiert dessen Integrität, doch mit zunehmender Annäherung wird dessen ambivalent-fatales Potential aktiviert. Diese Linie läßt sich bis in die heutige Jerusalem-Literatur weiterziehen. In Abraham B. Jehoschuas Erzählung „Drei Tage und ein Kind“ (1970) ist Jerusalem von einer Schreckenslinie umschlossen, ein Ort, geschaffen für einen Mord, eine Stadt der Toten. Jerusalem wird auch, wie beiläufig, mit einer Schlange verglichen, wobei die Handlung andernorts von einer Schlange berichtet, die aus purer Perfidie ausgerechnet einen erklärten Schlangenliebhaber beißt. Dann erscheint Jerusalem ,in seiner Blöße, mit nackten Felsen‘. Jehoschua biegt hier einen stark strapazierten Topos des heiligen Ortes in seine Negativvariante um, den der beseelten Steine. Und schließlich negiert der Autor ebenso die Vorstellung vom goldenen, lichtüberfluteten Jerusalem, indem immer wieder die scharfe Kühle Jerusalems betont wird. Doch nach dem Grundprinzip jahrtausendelanger hebräischer Literatur bleibt Jerusalem der Ort des Sehnens. Mit seinem 1994 geschriebenen Werk, „ha-Schiva me-Hodu“ („Die Rückkehr aus Indien“, vgl. FrRu 5[1998]10-14) überschreitet Jehoschua eine signifikante Linie. Die Stätte religiöser Sehnsucht ist nicht mehr Jerusalem, sondern das indische Varanasi. Möglicherweise das erste Mal seit der Epoche biblischer Baale wird in diesem jüdischen Roman, der gewisse Geistesströmungen des heutigen Israel sehr präzise einfängt, wieder ganz unverhohlen synkretistisch geflirtet, als ob der wirklich heilige Ort immer nur in unerreichbarer Ferne liegen könnte. Allerdings heißt das nun keinesfalls, daß die moderne hebräische Literatur Jerusalem zu entmystifizieren vermochte. Am Ende des 20. Jahrhunderts, wie bereits zu Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr., sind es paradoxe Topoi, welche die literarische Jerusalem-Darstellung dominieren. Einerseits erklingen nach wie vor in israelischen Jerusalem-Liedern die Worte „im nächsten Jahr in Jerusalem“ aus der Pesach Haggada, einer typischen Textsorte der Diaspora, welche die Sehnsucht nach dem heiligen Ort in einer besseren Zeit ausdrückt. Andererseits begegnet man in der israelischen Literatur immer wieder Akteuren, die zwar in der Stadt wohnen, sich aber dennoch unendlich nach ihr sehnen. Der heilige Ort bedarf der Distanz.


PD Dr. Gabrielle Oberhänsli-Widmer ist Dozentin für Hebräisch und Religionswissenschaft an der Universität Zürich.


Jahrgang 6/1999 Seite 179



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