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„Christen und Juden“

Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern

Die Erklärung wurde nach einem einjährigen Prozeß des Gesprächs und der theologischen Arbeit am 24. November 1998 in Nürnberg durch den Landesbischof, den Landeskirchenrat, den Landessynodalausschuß und die Landes-synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern verabschiedet.

Präambel

Die Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden führt in die Mitte des christlichen Glaubens: der Glaube an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den wir Christen als den Vater Jesu Christi bekennen, verbindet Christen und Juden. Das Thema ist nicht nur von außen an die Kirche herangetragen, sondern stellt eine für Kirche und Theologie gleichermaßen zentrale Lebensfrage dar. Weil Jesus von Nazaret dem jüdischen Volk zugehörte und in dessen religiösen Traditionen verwurzelt war, darum „sind Christen durch ihr Bekenntnis zu Jesus Christus in ein einzigartiges Verhältnis zu Juden und ihrem Glauben gebracht, das sich vom Verhältnis zu anderen Religionen unterscheidet.”1

Die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hat sich durch ihren Beschluß vom 23.4.1997 „Christen und Juden. Einladung zu einem Neuanfang” diese Erkenntnisse ausdrücklich zu eigen gemacht2 und ein Schwerpunktjahr zu diesem Thema ausgerufen. Am Ende dieses Jahres gibt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern im Monat der 60. Wiederkehr der Reichspogromnacht die folgende Erklärung ab. Sie soll für unsere Landeskirche eine Gesprächsgrundlage zum Nachdenken über unser Verhältnis zu den Juden und zum Judentum sein und Impulse für eine weitere Beschäftigung mit diesem Themenkreis bieten.

I. Der in der evangelischen Kirche erreichte Konsens

1. Die gemeinsame Wurzel von Judentum und Christentum

Jüdischer Glaube und christlicher Glaube leben aus einer gemeinsamen biblischen Wurzel. Juden und Christen bekennen sich zu dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser. Juden und Christen verstehen sich beide als Volk Gottes. Juden und Christen sprechen ihren Glauben in ihren Gottesdiensten aus, in dem sich vielfältige Gemeinsamkeiten finden. Juden und Christen sind in ihrem Glauben bestimmt durch die Wechselbeziehungen zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Juden und Christen leben auch in der Trennung aus der gemeinsamen Geschichte Gottes mit seinem Volk, deren Vollendung sie erwarten.3

Diese Gemeinsamkeiten haben Christen über Jahrhunderte hinweg vergessen und verleugnet, mißdeutet und uminterpretiert. Auch deshalb konnte es zu den schrecklichen Verfolgungen und Ermordungen von jüdischen Menschen kommen, an denen Christen beteiligt waren, die von Christen ausgingen oder von Christen geduldet wurden. In den deutschen evangelischen Kirchen4 haben wir im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu der für uns wichtigen Erkenntnis gefunden, daß wir einen Neuanfang machen müssen. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurden von Einzelpersonen und Institutionen in den letzten Jahrzehnten Anstrengungen unternommen,5 deren Ergebnisse in diese Erklärung der kirchenleitenden Organe münden.

2. Bedeutung der Schoah

Der Weg zu einer Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden muß notwendigerweise über die Erkenntnis der Mitschuld der Christen an der Verfolgung und Vernichtung von Kindern, Frauen und Männern jüdischer Herkunft (Schoah, Holocaust) führen. Die Schoah bedeutet eine tiefgreifende Herausforderung an christliche Lehre und Praxis.6 Sie gehört in die Wirkungsgeschichte einer Jahrhunderte alten antijüdischen Tradition, die auch ein gesamtchristliches Problem darstellt.7 Diese Tradition hat dazu beigetragen, den Verbrechen an den Juden im 20. Jahrhundert den Boden zu bereiten.8 Auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat als lutherische und als deutsche Kirche Anteil an dieser Schuld.

3. Luther und die Juden

Es ist für die lutherische Kirche, die sich dem Werk und Erbe Martin Luthers verpflichtet weiß, unerläßlich, auch seine antijüdischen Äußerungen wahrzunehmen, ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken.9 Sie hat sich von jedem Antijudaismus in lutherischer Theologie zu distanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampfschriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im Blick sein, an denen Luther den Glauben der Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt.

4. Bleibende Verheißung für Israel als Gottesvolk

Judentum und Christentum sind unterschiedliche Wege gegangen und stellen trotz der gemeinsamen Wurzel zwei verschiedene Glaubensgemeinschaften dar. Dennoch bleibt Israel nach Aussagen des Neuen Testaments das erwählte Gottesvolk (Röm 11,1). Seine Erwählung wird nicht durch die Erwählung der Kirche aus Juden und Heiden aufgehoben.10 Der christliche Glaube hält an der bleibenden Erwählung Israels fest. Sie hat ihren Grund in der Treue Gottes zu seinen Verheißungen.11

5. Verantwortung der Christen gegenüber Juden

Bei Anerkenntnis der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes und der zentralen Bedeutung des christlich-jüdischen Verhältnisses wird Antijudaismus als dem innersten Wesen des christlichen Glaubens entgegengesetzt erkannt. Deshalb gehört es zu den ureigensten Aufgaben der Kirche, sich von jeglicher Judenfeindschaft loszusagen, ihr dort, wo sie sich regt, zu widerstehen und sich um ein Verhältnis zu Juden und zu jüdischer Religion zu bemühen, das von Respekt, Offenheit und Dialogbereitschaft geprägt ist.

II. Theologische Perspektiven

1. Volk Gottes

Nach gesamtbiblischem Zeugnis hat Gott das jüdische Volk bleibend zu sich in Beziehung gesetzt. Diese Einsicht wird im Neuen Testament bestätigt und kommt besonders deutlich im Römerbrief des Apostels Paulus zum Ausdruck: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen" (Röm 11,29). Gottes unverbrüchliche Treue bleibt auch unabhängig von menschlichem Verhalten gültig. Auch wenn die Mehrheit der Juden Jesus als Messias ablehnt, ist Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel in Kraft geblieben. Nach neutestamentlichem Zeugnis versteht sich die Kirche als Gemeinschaft derer, die durch Christus zum Volk Gottes aus Juden und Heiden berufen wurden. Es ist deshalb Aufgabe der christlichen Theologie, das Selbstverständnis der Kirche so zu formulieren, daß dasjenige des jüdischen Volkes dadurch nicht herabgesetzt wird.12

2. Der Jude Jesus als der Christus der Kirche

Jesus war nicht nur äußerlich Glied des jüdischen Volkes. Seine Botschaft ist in christlicher Sicht eine Weiterführung und Entfaltung der in den Heiligen Schriften Israels, unserem Alten Testament bezeugten Zusagen Gottes (2.Kor 1,20). Sein Wirken war primär auf die Sammlung und Erneuerung Israels als Volk Gottes ausgerichtet. Der Glaube der Christen, der den Juden Jesus als den Christus bekennt, hat seine Wurzeln in Messiaserwartungen des Alten Testaments und des Judentums. Das Bekenntnis zu Jesus Christus, der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt ist (Röm 4,25), trennt Christen und Juden. Eine Rückbesinnung auf die jüdischen Grundlagen des Christusbekenntnisses kann zwar das Auseinandergehen der Wege nicht rückgängig machen. Aber sie kann das Verhältnis von Christen zu Juden auf einen neuen Weg bringen.13

3. Die Bedeutung des Alten Testaments in der Kirche

Das Alte Testament ist von Anfang an Heilige Schrift der Kirche gewesen. Das Neue Testament war nie gedacht als Gegensatz zum Alten Testament. Es versteht sich als Auslegung des alttestamentlichen Gottes- und Menschenverständnisses im Lichte des Kommens Jesu Christi. Dabei betrachtet das Neue Testament das Alte Testament nicht nur als Zeugnis des Gesetzes, sondern vor allem als Zeugnis der Verheißung. Trotz der unterschiedlichen Auslegung des Alten Testaments durch Christen und Juden lernt die Kirche so im Gott des Alten Testaments den Vater Jesu Christi kennen.

III. Themen der Weiterarbeit

Im Zuge der Beschäftigung mit dem Thema Christen und Juden hat sich gezeigt, daß insbesondere folgende Themenbereiche der Aufarbeitung in der bayerischen Landeskirche als einer lutherischen Kirche bedürfen:

1. Luther und Luthertum

Sowohl Aussagen Martin Luthers als auch bestimmte Ausprägungen lutherischer Theologie haben antijüdische Wirkungen hervorgerufen. Über die notwendige inhaltliche Distanzierung hinaus14 sind deren Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte zu erforschen und für eine künftige lutherische Theologie im Blick auf das christlich-jüdische Gespräch zu überdenken und zu kritisieren.15 Entgegen der oft eingeübten Praxis muß jede pauschalisierende Gegenüberstellung von Judentum (auch jüdischen Gruppen, wie z. B. Pharisäer) oder wesentlichen Inhalten der jüdischen Religion (z.B. Gesetz) zu der christlichen Botschaft aufgegeben werden und einer sorgfältig differenzierenden Sichtweise weichen. Die lutherische Kirche muß es sich zur Aufgabe machen, religiöse Intoleranz innerhalb der Kirche wie auch in der Gesellschaft zu bekämpfen.

2. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern im „Dritten Reich”

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern weiß sich zusammen mit anderen Kirchen mitverantwortlich für das antijüdische Denken und Handeln, die es möglich gemacht oder zumindest toleriert haben, daß die Verbrechen des „Dritten Reiches" an den Kinder, Frauen und Männern jüdischer Herkunft möglich wurden. Obwohl es auch in der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern Einzelne gab, die dieses Problem erkannt hatten (z.B. Wilhelm von Pechmann, Karl Steinbauer. Friedrich Seggel, Wilhelm Geyer), nahm die Kirche als Ganze die sog. Judenfrage nicht als theologisches Problem wahr. Die konkreten Verstrickungen, Unterlassungen und das Schweigen zum Völkermord an den Juden sind eingehender zu untersuchen.

3. Christliches Zeugnis

Der Auftrag, allen Menschen gegenüber die Botschaft vom Heil in Jesus Christus zu bezeugen, gehört zum Wesen der Kirche. Dabei kann die Kirche nicht darauf verzichten, das Zeugnis und Selbstverständnis des Judentums wahrzunehmen.16 Christen stehen heute vor der Aufgabe neu darüber nachzudenken, wie sie ihr Zeugnis, daß Jesus Christus Heil für alle Menschen bedeutet, im Blick auf die Juden verstehen, wie sie es benennen und welche Gestalt sie ihm geben sollen.17

4. Landverheißung und Staat Israel

Die biblische Überlieferung des verheißenen Landes ist ein tragendes Element der jüdischen Tradition.18 Der Glaube, daß Gott das jüdische Volk erwählt hat, steht in einem engen Zusammenhang mit dem Glauben, daß Gott dem jüdischen Volk das Land zugesagt hat. Anders als bei Christen, für die sich die Heilsverheißung Gottes nicht mit einem bestimmten Land verbindet, hat das Land IsraeI für das Judentum religiöse Bedeutung. Im Blick auf das Verständnis des „Landes" und seiner Grenzen gibt es im Judentum unterschiedliche Auffassungen. Christen unterstützen das Bestreben des jüdischen Volkes nach einer gesicherten Existenz in einem eigenen Staat. Zugleich sorgen sie sich um eine Friedenslösung im Nahen Osten, die die Rechte auch der Palästinenser und insbesondere der Christen unter ihnen einschließt und Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit für alle dort lebenden Menschen gewährleistet. Unsere christlichen Brüder und Schwestern dort fordern uns auf, dem Thema „Gerechtigkeit" mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Deshalb müssen wir verstärkt darüber nachdenken, wie Gerechtigkeit heute in der Region zu verwirklichen ist, ohne daß die gebotene Solidarität gegenüber den jüdischen Menschen vernachlässigt wird.

5. Gottesdienst und Unterricht

Christliche Lehre und Praxis teilen mit dem Judentum Grundelemente des biblischen Glaubens und des gottesdienstlichen Vollzugs. Trotzdem haben Christen allzuoft in Gottesdienst und christlicher Erziehung Sachverhalte der jüdischen Religion als Negativfolie benutzt, um von hier aus umso positiver christliches Selbstverständnis darzustellen. Es ist unsere Aufgabe, Gemeinsames und je Eigenes zu entdecken, das Trennende auf seine Gültigkeit hin zu überprüfen und darauf zu achten, daß entstellendes und diffamierendes Reden über Juden und Judentum in Gottesdienst und Unterricht unterbleibt.

(Anm. der Redaktion: Im Anschluß an diesen Text werden von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in fünf Hauptpunkten Konsequenzen für die praktische Durchführung der Erklärung gezogen und Zusammenarbeitsmodelle auf Gemeinde- und Landesebene skizziert. Das Dokument schließt mit dem Segenswunsch.)

Segenswunsch

Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, segne alle unsere Bemühungen um ein besseres Verhältnis zwischen Christen und Juden.

  1. Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ), Driebergener Erklärung 1990, I.1.
  2. Sie stellt sich damit in die Reihe der Kirchen und Kirchenbünde in Deutschland, die sich zum Thema Christen und Juden durch Erklärungen zu Wort gemeldet haben: Rheinland 1980; Baden 1984; Berlin-Brandenburg (W) 1984; Greifswald 1985; Württemberg 1988; Westfalen 1988; Berlin-Brandenburg (0) 1990; Pfalz 1990; Oldenburg 1993; Hannover 1995; Kurhessen-Waldeck 1997. EKD-Studien Christen und Juden I und II, 1975 und 1991 (EKD 1991); Evangelisch-Reformierte Kirche 1984; Reformierter Bund 1990; LEKKJ 1990; Bund der Evang.-Freikirchlichen Gemeinden in Deutschland 1997.
  3. Vgl. EKD-Studie 1,1975, I.1-6; EKD-Studie II, 1991, 17 f.
  4. Vgl. Anm. 2.
  5. Siehe die Arbeit und die Angebote der Christlich-Jüdischen Gesellschaften, der Akademie Tutzing, der Heimvolkshochschule Bad Alexandersbad, vieler Einrichtungen der Erwachsenenbildung, des BCJ (Begegnung von Christen und Juden, Verein zur Förderung des christlich-jüdischen Gesprächs in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern), und die Symposien, deren Ergebnisse festgehalten sind in: Wolfgang Kraus (Hg.), Christen und Juden: Perspektiven einer Annäherung, Gütersloh 1997 (Beiträge von Teilnehmern aus ganz Bayern des Symposions Christen und Juden, welches zwischen 1992 und 1995 in Nürnberg zum Thema arbeitete).
  6. LEKKJ 1990, I1.1.
  7. EKD-Studie II 1991,17; Pfalz 1990, II.1.
  8. EKD 1991,16.
  9. Vgl. den Arbeitsbericht des Arbeitsausschusses (Beschluß vom 12. November 1998).
  10. Baden 1984, 3.
  11. EKD Berlin-Weißensee, 1950.
  12. EKD 1991, 54.
  13. EKD 1991, 33 f.
  14. Diese notwendige inhaltliche Distanzierung ist oben unter I.3. als Konsens bereits beschrieben worden.
  15. Vgl. LEKKJ 1990, IV.2.
  16. Berlin-Brandenburg (W) 1984, 6.
  17. EKD 1975, 1.6.
  18. EKD 11, 1991, 19.

Jahrgang 6/1999 Seite 191



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