Als Botschafter Israels in Bonn. Ullstein, Berlin 1997. 272 Seiten.
„Deutschland — je weiter ich mich davon fernzuhalten suchte, desto näher rückte es“ (105). Dieser Satz des seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland akkreditierten, 1935 in Israel geborenen Botschafters Avi Primor, bestimmte die persönliche wie politische Entwicklung eines Mannes, der so Widersprüchliches schreibt wie: „Deutschland — ein weißer Fleck“ (11): „Für Menschen wie mich, die nie persönlich unter den Nazis gelitten haben, bedeutete die NS-Zeit eine derart tiefe Demütigung, daß man sie, um sein Gleichgewicht zu wahren, verdrängen mußte“ (44). Deshalb standen in den vom jungen Staat Israel ausgestellten Pässen die Worte „Gültig für alle Länder mit Ausnahme Deutschlands“! Jahre später äußerte sich Primor als Israelischer Botschafter in Bonn zu den Beziehungen Bonn-Jerusalem: „Deutschland ist der größte Freund [Israels] in der Welt nach den Vereinigten Staaten“ (zitiert in: „Welt am Sonntag“, 3. Mai 1998). Bei der Verleihung des „Kulturpreises Europa 1998“ an Avi Primor bezeichnete ihn der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel als „einen Brückenbauer zwischen Deutschland und Israel, zwischen Europa und dem Nahen Osten“ (Frankfurter Allgemeine, 5. Mai 1998, vgl. auch FrRu 6[1999]76).
Wie lassen sich solche extrem entgegengesetzte Aussagen begreifen? Als fast gleichaltriger Deutscher, der auch seine negativen Erfahrungen im Nazideutschland gemacht hat, über Primors Buch eine sachliche Besprechung zu schreiben, ist mir kaum möglich. Wahrheit, Ausgewogenheit, Unterhaltsamkeit, Wissenschaftlichkeit, — all das versagt vor der Frage nach der Schoa. Avi Primor hatte den deutschen Antisemitismus und die Schoa nicht persönlich erlebt. Er wußte von der leidvollen deutsch-jüdischen Geschichte nur vom Hörensagen und hatte doch eine solche Abneigung empfunden, daß er niemals etwas mit Deutschland zu tun haben wollte (11). Was hat seine Einstellung verändert? Die ersten zufälligen Begegnungen mit Deutschen im Ausland fand Primor empörend. Aber als angehender Diplomat mußte er persönliche Gefühle zurückstellen. An der Elfenbeinküste suchte ihn erstmals ein deutscher Diplomat, Klaus von Amsberg, auf und bestätigte ihm offen und ehrlich die Richtigkeit seines Deutschlandbildes. Das „Un-Verhältnis Israel-Deutschland“ war nicht nur Avi Primors persönliches Problem. Es fand sich eingeschlossen im Rahmen jener geschichtlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit, die ein „Verhältnis“ erzwangen.
Jüdische Versuche zur Bewältigung der Schoa durch Verdrängung, Rache und Bann mißlangen. Deutschland blieb „Feindesland“. Aber gegen alle jüdische Empörung, die beim Bekanntwerden der „Wiedergutmachung“ durch Ben Gurion und Konrad Adenauer einen ersten Höhepunkt erlebte und sich bei der Aufnahme militärischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlich-technischer und schließlich sogar diplomatischer Beziehungen wiederholte, stand der Zwang zum ungewollten „Zusammenmüssen“. So kam, was gar nicht kommen durfte: Deutsches Schuldbekenntnis zur Schoa und und jüdisches Entgegennehmen, nicht beabsichtigte Kontakte sondern eher sich naturgemäß einstellende Mechanismen, die ein erträgliches Zusammenleben ermöglichten. So wurden Juden und Deutsche Partner (65, 100). Eine große Rolle spielte dabei der zunächst geheime Waffenaustausch im politischen und militärischen Gefüge des Kalten Krieges: „... man mußte die Kontakte mit Deutschland auf diesem heiklen Gebiet als unausweichliche Konsequenz aus einer Situation darstellen, in der es um das Überleben ganz Israels ging“ (69).
„Verändernd wirken allein der alltägliche Umgang einzelner miteinander und die Erkenntnis, die jeder für sich aus solchen Begegnungen gewinnt. Sie schaffen neue Realitäten, sind letztlich stärker als jede Politik und Propaganda“ (62). Das beste Beispiel ist Avi Primors Mutter. 1932 machte die 18jährige Selma Goldstein aus Frankfurt einen Besuch in Israel, verliebte sich und kehrte, gegen den Willen der Eltern, nicht mehr zurück. Ihre gesamte Familie wurde Opfer der Schoa. Als sie 1980 die Einladung des Frankfurter Bürgermeisters erst empört ablehnte und dann auf Zureden ihres Mannes doch reiste, bewirkten die Begegnungen, daß sie von da an jährlich nach Deutschland reiste. Mit Beklommenheit betritt Avi Primor 1990 — abgesehen von einer Durchreise 1958 — zum erstenmal deutschen Boden.
So geht die Erzählung der emotional bestimmten persönlichen Beziehung „Avi Primor — Deutsche“ über in die sachliche Darstellung der Nachkriegsbeziehung „Israel-Deutschland“. Gestört wurden die Beziehungen durch deutsche Beihilfe zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen in arabischen Ländern, durch Mißstimmungen unter Politikern beider Seiten, durch die pro-arabische Studentenrevolte 1968, durch den Historikerstreit und anderes mehr. Nach der „Entmystifizierung seines Deutschlandbildes“ (144) nimmt Primor 1993 das Angebot, Botschafter in Deutschland zu werden, an. Nunmehr hat er die Möglichkeit, das angebliche „andere“ Deutschland (105) kennenzulernen. Konkrete Erlebnisse lassen ihn das „andere Deutschland“ erleben: die Benennung von zwanzig Hamburger Straßen (1995) nach ermordeten jüdischen Kindern; die Aufarbeitung der NS-Zeit durch eine Schülergruppe in der Dauerausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ in Berlin; die Aufführung des vor allem von Jugendlichen besuchten Schauspiels „Ab heute heißt du Sarah“ im Berliner Grips-Theater; die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Beteiligung der Wehrmacht an den Nazi-Verbrechen; Erinnerungstafeln und Gedenksteine in jeder größeren Stadt; die Bemühungen der deutsch-israelischen Gesellschaften und der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit; die Mahnmalplanung; Formen des Gedenkens in Berlin Schöneberg; das energische Vorgehen gegen die Neonazis (1994) nach der Verunstaltung der Gedenkstätte Buchenwald; Gedenkveranstaltungen „50 Jahre danach“; Erklärungen der beiden Großkirchen; die Einführung eines Gedenktages am 27. Januar, dem Datum der Befreiung von Auschwitz; die Entstehung neuer jüdischer Gemeinden und die Einwanderung von Juden aus dem Osten; schließlich die kleine, immer noch in der deutschen Öffentlichkeit wenig beachtete Schar der deutschen „Gerechten unter den Völkern“. „Ich begann zu verstehen, wie schwierig und schmerzhaft es für Deutsche ist, wenn sie der Vergangenheit gegenüber nicht gleichgültig bleiben wollen — und dies trifft immerhin auf die meisten zu“ (211). Man weiß, „...daß das heutige Deutschland nichts mit dem Dritten Reich gemeinsam hat, trotz der laufend wiederkehrenden Ausschreitungen von Neonazis und der Berichte darüber in israelischen Medien. Lichterketten und ähnliche Protestaktionen in Deutschland verfehlen auch in Israel ihre Wirkung nicht“ (236).
Das Buch endet mit dem anschaulichen, wenn auch umstrittenen Bild von „Wunde und Narbe“: „die alten Wunden sind längst verheilt, die zurückgebliebenen Narben aber immer noch empfindlich“ (265). Dennoch ist die Vision für das nächste Jahrhundert positiv. „... dann wird Israel wirklich und fast wie selbstverständlich mit Deutschland verbunden und zugleich in Europa verankert sein“ (269). Avi Primor gibt in seinem Buch aus gelebter Erfahrung die Richtung an, in die hinein allein eine erträgliche Beziehung zwischen Juden und Deutschen möglich ist. Der Gott der Juden und der Christen läßt sie in eine gemeinsame Zukunft aufbrechen, eine Zukunft, die beide Völker leben läßt nach dem Wort des Propheten: Laßt uns den Weg gehen in Demut mit unserem Gott (Micha 6,8).
Bernd Bothe
Jahrgang 6/1999 Seite 200