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Lorenz-Lindemann, Karin (Hg.)

Widerstehen im Wort

Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Wallstein Verlag, Göttingen 1996. 194 Seiten.

Jäger, Gudrun

Gertrud Kolmar

Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Campus Judaica, Bd. 12. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1998. 297 Seiten.

„Sie ließ ihren Glauben doch nicht. Denn er war ihr nicht angezogen so wie ein Kleid, das man auswachsen oder verschleißen und leichthin abwerfen kann, sondern war mit ihr geworden wie eine Haut, verwundbar, doch unverlierbar, unlöslich“, heißt es über die Martha, die Hauptfigur in Gertrud Kolmars Erzählung „Die jüdische Mutter“ (1931). Auch die Autorin, 1894 in Berlin geboren und im März 1943 in den Gaskammern von Auschwitz umgebracht, konnte und wollte ihr Judentum nicht verleugnen. Dabei stammte sie aus einem assimilierten Elternhaus, hatte sich aber bereits früh als einzige der Familie der zionistischen Bewegung zugewandt. Doch an Auswanderung nach Palästina hat sie offenbar nie gedacht. Sie blieb in Berlin, wo sie das furchtbare Schicksal ereilte, das sie in einem ihrer letzten Gedichte wohl vorausgeahnt hatte, nämlich zu „Sand in den Schuhen Kommender“ zu werden. Kein Zweifel: Gertrud Kolmar (eigentlich: Chodziesner) gehört zu den herausragenden deutsch-jüdischen Dichterinnen dieses Jahrhunderts. Und dennoch steht sie, was ihren Bekanntheitsgrad betrifft, im Schatten von Else-Lasker Schüler und Nelly Sachs. Insofern ist es überaus verdienstvoll, daß Karin Lorenz-Lindemann, Literaturwissenschaftlerin und selbst Schriftstellerin, diesen Aufsatzband herausgegeben hat.

Während sich die Kolmar-Forschung lange Zeit auf den Zusammenhang zwischen Biographie und Dichtung konzentriert hat, steht in dem vorliegenden Sammelband das Werk selbst im Mittelpunkt. Gleichwohl findet sich neben dem einleitenden Beitrag von Beatrice Eichmann-Leutenegger, der eine gelungene biographische Verortung leistet, eine weitere biographie-orientierte Studie von Christiane Auraus über Gertrud Kolmars Briefe an ihre Schwester Hilde aus den Jahren 1938-1943. Ansonsten dominieren Aufsätze, die einzelne Werke sowie Themen- und Motivkreise interpretieren. Besonders aufschlußreich ist die Studie Lorenz-Lindemanns zu Kolmars Poetologie und Geschichtsverständnis, in der Kolmars letzter Gedichtzyklus „Welten“ (1947), der aufgrund der Zeitläufte damals so gut wie keine Beachtung fand, als ein „facettenreiches Zeugnis einer mit den Mitteln künstlerischer Erkenntnis arbeitenden Deutung von Natur und Geschichte“ interpretiert wird. Eine interessante Beobachtung macht auch Jakob Hessing zum Gedicht „Verwandlungen“, worin die Autorin beklagt, daß sie kinderlos geblieben ist („Das einzige, das mir zubestimmt und das ich nicht geboren“). Er verweist auf Parallelen zur Biographie von Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs, die ebenfalls ohne Kinder geblieben sind. Neben weiteren Studien zu Gedichten oder Gedichtszyklen Kolmars verdienen vor allem jene Aufsätze Erwähnung, die sich mit den weniger bekannten Erzählungen und Essays dieser bedeutenden Autorin befassen und Aufschluß darüber geben, was in dem Beitrag von Lucia Hubig und Reiner Marx „Jüdische Selbstvergewisserung unter nationalsozialistischer Verfolgung“ genannt wird.

Die inzwischen recht umfangreiche Sekundärliteratur zu Person und Werk Gertrud Kolmars läßt Tendenzen erkennen, die die Literaturwissenschaftlerin Gudrun Jäger als den Versuch beschrieben hat, „das Kolmarsche Werk gegen eine differenzierte und kritische Betrachtung zu immunisieren“. Ihre publikations- und rezeptionsgeschichtliche Studie greift auf die Unterscheidung von Manfred Durzak zurück, der in Hinblick auf die Erforschung der Exilliteratur vom „literarischen Dokument“ und „moralischen Zeugnis“ gesprochen hat, die nicht miteinander vermischt werden dürften. Die sich daraus ergebende Frage, ob man Gertrud Kolmars Prosa, ihre Dramen und ihre frühe Lyrik wegen ihrer mangelnden literarischen Qualität besser nicht veröffentlicht hätte, wird von Jäger gleichwohl verneint. Wer ein ,gelungenes‘ Gedicht von ihr lese, der habe selbstverständlich das Anrecht zu wissen, was diese Dichterin auch sonst noch geschrieben habe und was im Vergleich dazu eher trivial, unvollendet oder unausgereift sei. Besonders lesenswert ist das fast 150 Seiten umfassende Kapitel, in dem Jäger den langwierigen und komplexen Prozeß der postumen Publikation und Rezeption des Kolmarschen Werkes analysiert, vom Erscheinen des Gedichtbandes „Welten“ (1947) bis zur Publikation des Dramas „Nacht“ aus dem Nachlaß im Jahr 1994. Als Quellen dienen der Verfasserin neben der bislang unveröffentlichten Korrespondenz zwischen Familienangehörigen Gertrud Kolmars, Nachlaßverwaltern, Herausgebern und Verlegern auch die Besprechungen der jeweiligen Publikationen sowie wissenschaftliche Einzelstudien und Dissertationen, die sich mit Leben und Werk der Dichterin befassen. Eine umfangreiche Bibliographie zur Publikationsgeschichte Kolmarscher Texte rundet diese wichtige literaturwissenschaftliche Studie, die bis in die unmittelbare Gegenwart reicht und sogar den hier besprochenen Sammelband von Lorenz-Lindemann mit einbezieht, nicht nur ab, sondern stellt für die weitere Forschung auch ein wichtiges Hilfsmittel dar.

Anat Feinberg


Jahrgang 6/1999 Seite 214



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