Auf der Suche nach einer modernen Identität. GTB 717. Gütersloh 1998. 160 Seiten.
Es gibt eine Reihe abstrakter Veröffentlichungen zum Thema „Die Frauen im Judentum“. Es gibt auch biographische und autobiographische Publikationen weiblicher Schoa-Opfer und Überlebender. Es gibt jedoch kaum Literatur zum Selbstverständnis konkreter jüdischer Frauen heute, zumal in Deutschland. „Die Heiligung Gottes beginnt im Familienleben“ so Hanna Rheinz. Mit leichtem Sarkasmus schildert sie die verschiedenen (meist unmöglichen) Möglichkeiten für Singles, einen jüdischen Partner zu finden. Mischehen werden als Todeskeim für das Judentum angesehen. Kinder aus Mischehen tun sich doppelt schwer, eine Identität aufzubauen. Mit feinem Einfühlungsvermögen schildert die Autorin, die auch Psychologin und Psychotherapeutin ist, die eigentümliche Ambivalenz von Entfremdung und verinnerlichtem Jüdisch-Sein, in der Jüdinnen „jenseits der Bilder und Festlegungen einer idealisierten und zugleich beschnittenen jüdischen Weiblichkeit“ ein eigenes Leben aufbauen wollen. Für das Überleben des Judentums in der Moderne hält Rheinz es für wichtig, daß Frauen am öffentlichen religiösen Leben aktiver teilnehmen; sie zitiert den chassidischen Rebbe Menachem Mendel Schneerson: „Nach Tausenden Jahren männlicher Dominanz stehen wir nun am Beginn eines weiblichen Zeitalters. Heute erheben sich Frauen zu ihrer wahren Bedeutung, und die ganze Welt wird die Harmonie erkennen, die zwischen Mann und Frau möglich ist.“ Die alte chassidische Lehre, daß eine „harmonische Welt mittels der idealen Partnerschaft zwischen Mann und Frau“ wiederhergestellt werden könne, überträgt sie in die Moderne: Frauen komme in Zukunft vermehrt die Aufgabe der spirituellen Führung zu — sie haben schließlich „einen direkten Zugang zur Schechina“. Rheinz geht auch auf die Tatsache ein, daß weltweit viele jüdische Frauen sich von den ultra-orthodoxen Gemeinschaften angezogen fühlen, obwohl diese extrem patriarchalisch ausgerichtet sind, und interpretiert diese Faszination als „Furcht vor der Freiheit in einer kalten, rücksichtslosen Welt“. Zu den Veränderungen, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren vor allem im amerikanischen Reformjudentum von jüdischen Feministinnen durchgesetzt wurden, sagt Hanna Rheinz, man dürfe nicht vergessen, daß es sich dabei „um eine Minderheit handelt“. Die Auslegung der Halacha liegt noch immer ausschließlich in der Hand von Männern.
Zwischen den essayistischen Kapiteln erzählt die Autorin eine tragische Geschichte über eine Konvertitenfamilie: „Unechte Christen, unechte Juden ... Von der ,Herrenrasse‘ verfolgt. Das Mißtrauen der anderen Juden im Nacken.“ Interessant sind die Informationen über das fast archaische Brauchturn äthiopischer Juden aus der biblischen und nachbiblischen Tradition oder über den hohen Status von Jüdinnen in Deutschland und Nordfrankreich im Mittelalter, ausgelöst durch das frauenfreundliche Wirken von Rabbi Gerschom Me‘or ha Gola (ca. 960-1028), im Gegensatz zu Maimondes (geboren 1135 in Cordoba), der, von islamischer Kultur beeinflußt, frauendiskriminierend wirkte. Bedeutend war auch die Rolle jüdischer Frauen im Prozeß der Assimilation, der Jüdinnen in den Berliner Salons des frühen 19. Jahrhunderts. „Die weitgehend von jüdischen Frauen initiierte und getragene ,deutsch-jüdische Symbiose‘ mündete vielmehr in ein stillschweigendes Aufgeben der eigenen Traditionen ...“ Und als Fazit: „Die Erfahrung moralischer Unterlegenheit, die nachfolgende Selbstaufgabe und Verleugnung der jüdischen Traditionen, wie sie charakteristisch für das Lebensgefühl weiter Teile der jüdischen Bevölkerung im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts war, bildet, gemeinsam mit den Folgen der Schoa, ein neurotisches Gemisch, das der Integration und Bejahung jüdischer Identität in Deutschland weiterhin im Wege steht.“ Daß gerade Frauen ihr Judentum aufgaben, bringt Hanna Rheinz in direkten Zusammenhang mit dem Ausschluß von Frauen aus dem intellektuellen und liturgisch/synagogalen Bereich, aus den philosophischen und ethischen Dimensionen des Judentums.
Hanna Rheinz berichtet auch von Versuchen, am Rande der traditionellen Gemeinden der Nachkriegszeit liberale Gemeinden aufzubauen, und natürlich auch von den Schwierigkeiten, die Zuwanderer aus den GUS-Staaten in die bestehenden Gemeinden zu integrieren. Die weit ausgreifende Lektüre macht nachdenklich und — hoffentlich auch sensibel und zurückhaltend — im Be-Urteilen.
Ruth Ahl
Jahrgang 6/1999 Seite 217