Hase und Koehler Verlag, Mainz 1997. 191 Seiten.
„Jeder, der ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“ (Talmud). Zum Fortbestand der Welt darf es, gemäß dem Talmud, niemals an 36 Gerechten fehlen. Auch zur Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes in Deutschland gab es gerechte Frauen und Männer, die ihre moralische Gesinnung über den unbedingten Staatsgehorsam stellten. Ihre Taten legen Zeugnis ab dafür, daß der letzte Funke von Humanität noch nicht ganz erloschen war.
Herbert Straeten, der sich durch „sein Engagement im Sinne der Aussöhnungspolitik“(191) verdient gemacht hat, geht der Frage nach, wer im Dritten Reich wann und wo anders handelte als die Mehrheit. In einfachen, eindringlichen Worten erzählt der Autor die Geschichten einiger dieser ,anderen Deutschen‘. Sie stammen aus allen Schichten der Bevölkerung. So ist die Rede von der mutigen Tat der Wäscherin und dem Chefarzt, dem Zirkusdirektor und dem Hauptfeldwebel, dem beinahe erblindeten Besenbinder und einem Pfarrer, dem Bauern und der Aristokratin, dem Juristen, der Schauspielerin und von vielen anderen. Ihre Motive waren so vielfältig wie ihre Lebensumstände. Handelten die einen aus religiösen oder humanen Überzeugungen, wurden andere von einem stark antinazistischen Gefühl getrieben. Immer war das Mitleid stärker als die Angst vor der Partei. Ihnen allen gemeinsam waren Solidarität und Toleranz. Einige von ihnen bezahlten ihre Gerechtigkeit mit dem eigenen Leben. Diese Menschen wie auch die Zahl der von ihnen Geretteten widersprechen der Aussage, daß dem Lauf der Tragödie nichts entgegengesetzt werden konnte. Die hier gezeichneten Schicksale belegen, wie Zivilcourage verbunden mit konkreter Hilfe zur Rettung vieler Verfolgter geführt hat. Die Hilfeleistungen reichten von der Versorgung mit dem Notwendigsten wie Nahrung und Kleidung bis hin zur Fluchthilfe durch Identitätsfälschung. Die Gefahr der Entdeckung war permanent. Denunzianten lauerten überall. Beinahe jeder Retter, jede Retterin hatte unbekannt gebliebene Mitwisser, ohne deren Mithilfe und Verschwiegenheit viele Rettungsaktionen nicht möglich gewesen wären. Auch ihrer wird hier gedacht. Herbert Straetens Buch soll die Erinnerung an die Humanität und den Mut dieser „gerechten“ Männer und Frauen wachhalten. Bis jetzt wurden auf Initiative der Geretteten über 300 Deutsche als „Gerechte der Völker“ geehrt. Für jeden wurde als Symbol des Lebens an der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ein Baum gepflanzt. Eine aktuelle Namensliste findet sich am Schluß dieses Zeitdokumentes. Der Autor möchte sein Buch nicht als Rechtfertigung oder Entschuldigung der begangenen Greuel verstanden wissen. Gleichzeitig wendet er sich aber gegen jedes Kollektivurteil, das die Tatsache der Gerechten jener Zeit unberücksichtigt läßt. Vielmehr geht es um ein kollektives Verantwortungsbewußtsein, denn Gerechtigkeit heißt stets auch Verantwortung wahrnehmen. Dem Zeitbericht wäre vor allem eine junge Leserschaft zu wünschen, denn die geschilderten Taten können heranwachsenden Menschen als Beispiel und Vorbild für Solidarität, Mut und Toleranz dienen.
Iris Nydegger
Jahrgang 6/1999 Seite 220