Erinnerungen an Deutschland. Metropol Verlag, Berlin 1997. 211 Seiten.
„Oft sehe ich im Geist einen grünen Hügel, den Hunderte Menschen hinaufgehen. Sie kommen in Gruppen ... halten einander an den Händen. Wenn sie den Kamm des Hügels erreicht haben, gehen sie die andere Seite hinunter, ohne sich umzusehen ... Sie sind verschwunden! Ich weiß, ich werde sie nie wieder sehen.“
Lotte Strauss schrieb ihre leidvolle Geschichte als „Brief“ an ihre Tochter Janie. Sie erzählt von ihrer Flucht über die Schweiz mit ihrem Mann Herbert (geb. 1918 in Würzburg), einem bekannten Antisemitismusforscher. Es ist ein eher leises Buch geworden, ohne literarisches Pathos und intellektuelle Reflexionen. Der Leser wird nicht erschlagen von den Gemeinheiten und Scheußlichkeiten der Naziherrschaft. Aufgewachsen ist die Autorin in einer intakten jüdischen Familie in Wolfenbüttel (Norddeutschland), mit negativen Erfahrungen im protestantischen Religionsunterricht und mit dem aufkommenden NS-Antisemitismus. Die Mutter sah voraus, daß es für die jüdische Jugend in Deutschland keine Zukunft geben würde. Um etwas Praktisches zu erlernen ging Lotte zwei Jahre nach Berlin in eine Schneiderlehre. 1935 heiratete sie — „ein äußerst unglücklicher Schritt“ — einen „arischen“ Jugendfreund, der es aber mit der ehelichen Treue nicht sehr ernst nahm. 1938 wurde sie vom Berliner Kammergericht geschieden, mit der damals ungewöhnlichen Begründung: „Es kann ihr als Jüdin nicht länger zugemutet werden, die Ehe aufrecht zu erhalten.“ Ohne Erfolg betreibt sie ihre Auswanderung, denn mit Kriegsausbruch wurden die Grenzen dichter. Sie lernt ihren späteren Mann kennen, eine liebevolle Bindung, die die nächsten Jahre zu einem zwiespältigen Überlebensproblem werden lassen. Es folgten das Tragen des „Judensterns“, Zwangsarbeit in kriegswichtigen Betrieben, Deportation der Eltern, Flucht vor der Gestapo, Verstecke bei guten Menschen. Durch das Rote Kreuz ergab sich im Oktober 1942 die Hoffnung, über einen in der Schweiz lebenden Onkel dorthin zu gelangen. Am 27. Februar 1943 hat die SS bei einer Großrazzia in Berlin fast 10 000 Juden zusammengetrieben und nach Auschwitz transportiert, darunter auch die Mutter von Ernst Ludwig Ehrlich, eines Kommilitonen von Herbert Strauss. Nun planten sie ihre Flucht über „die grüne Grenze“, d. h. in die Schweiz. Über ein mutig organisiertes Helfernetz gelang Lotte Strauss die Flucht am 1. Mai 1943 (Familienausflugstag!). Ihr Mann und Ernst L. Ehrlich folgten später auf dem gleichen Weg. Während „Lutz“ (heute Prof. Dr. Ludwig Ehrlich) in der Schweiz blieb, emigrierte das Ehepaar Strauss nach New York. 1982 wurde Prof. Herbert Strauss berufen, in Berlin ein Zentrum für Antisemitismusforschung aufzubauen. Doch nach acht Jahren kehrten sie endgültig in die USA zurück — darum: „Erinnerungen an Deutschland“.
Hans L. Reichrath
Jahrgang 6/1999 Seite 221