Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 544 Seiten.
Daniel Goldhagens Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ (vgl. FrRu 4[1997] 2-6) läßt zahlreiche Fragen offen, gerade weil er alles zu erklären suchte. Der Historiker John Weiss, Sohn eines österreichischen katholischen Einwanderers, beantwortet viele dieser Fragen über den spezifisch deutschen und österreichischen Antisemitismus, der den Weg zum Holocaust geebnet hat.
Anders als Goldhagen begnügt sich Weiss nicht mit monokausalen Erklärungen und einem Kollektivschuld-Vorwurf, sondern geht äußerst differenziert den Ursprüngen des christlichen Judenhasses (der zunächst keineswegs mörderisch war) nach und erklärt, wie die christlichen Kirchen in Deutschland und Österreich, die idealistische Philosophie (Fichte!, 1762-1814) und der deutsche Nationalismus den Nährboden für die „Ideology of Death“ (so der Titel der amerikanischen Originalausgabe) abgeben konnten. Die Analyse ist schonungslos und überzeugend in ihrer Konsequenz. Während die Bilderwelt des modernen Antisemitismus — der Jude als Gottesmörder und Parasit — im Mittelalter heranreifte, sieht Weiss in Martin Luther den „Urheber jener Mischung aus deutschem Konservatismus, Nationalismus und Antisemitismus, die für die Juden in Mittel- und Osteuropa so tödliche Folgen haben sollte“ (39). Ob der Vorwurf „Luther war schlicht Rassist“ (45) zutrifft, sei dahingestellt, aber es fällt Weiss auf, daß protestantische Widerständler allesamt eher der kalvinistischen Tradition angehörten. Die mörderische Konsequenz liegt nicht erst in der oft überschätzten Biographie Hitlers und seiner „Helfer“, sondern läßt sich in der Kultur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts ablesen. Namen wie Friedrich Carl von Savigny, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn, Gustav Freytag, Wilhelm Raabe und natürlich Heinrich von Treitschke und seine „Deutsche Geschichte“ in fünf Bänden (1879-1894) stehen für antisemitische Traditionen in höchst gebildeten Kreisen und werden von Weiss ebenso kenntnisreich behandelt wie die Demagogen Adolf Stoecker (der kaiserliche Hofprediger in Berlin!, vgl. FrRu 5[1998]241-245), der „hessische Bauernkönig“ Otto Böckel und Wilhelm Marr, der 1879 die „Antisemitenliga“ gründet und dessen Rassismus bereits „die Möglichkeit zum Völkermord“ (142) enthält. Besonders untersucht wird auch der katholische Antisemitismus in der Habsburger Monarchie, der zu den bekannten Wiener Figuren Karl Lueger und Georg Ritter von Schönerer führt und deren klerikale Ursprünge (P. Heinrich Abel SJ) oft zuwenig bewußt sind. Der Versuch einer Intervention des Prager Kardinals Friedrich Schönborn bei Papst Leo XIII. gegen Luegers Christlichsoziale Partei, die „niedrige Begierden“ entzünde, war erfolglos. Wie sehr auch nach dem Ersten Weltkrieg ein auffällig österreichischer und auch bayrischer Antisemitismus virulent blieb, zeigte sich u. a. am Anteil der aktiven Nazis im Vergleich zum übrigen „Reich“ (238) und der Gewalttätigkeit von Studenten (308). Schließlich schildert Weiss noch den Höhepunkt des Judenmordes im Zweiten Weltkrieg (423), die vielfache Komplizenschaft (445), den Opportunismus auch der Widerständler des 20. Juli 1944 (470 ff.) sowie kirchliche Schattengestalten wie die Bischöfe Wilhelm Berning und Alois Hudal. Aber auch der „Gefangene des Führers“, Martin Niemöller, „tat für die Juden nichts“ (306) und Papst Pius XII. war „alles in allem ein Unglück für sein Amt und für den Katholizismus“ (463).
Das Werk ist eine wertvolle Ergänzung und kompetente Korrektur von Goldhagens einseitigen Thesen. Der große Holocaust-Forscher Raul Hilberg urteilte richtig, wenn er sagte: „Für viele Leser wird dieses Buch eine ganze Bibliothek ersetzen können.“
Stefan Hartmann
Jahrgang 6/1999 Seite 223