Diese Ansprache von Papst Johannes Paul II. bei der Generalaudienz im Vatikan am 28. April 1999 erhielt in den USA und in Israel ein gutes Echo. Rabbiner Prof Michael Signer, Notre Dame University, South Bend, Indiana, sagte bei einer Rede in Israel u. a., dieses Dokument zeige, „daß der Papst das jüdische Volk sehr ernst nimmt“.
Der interreligiöse Dialog, den das Apostolische Schreiben Tertio millennio adveniente als bezeichnenden Aspekt des laufenden Gottvater-Jahres empfiehlt,1 bezieht sich vor allem auf die Juden, „unsere älteren Brüder“, wie ich sie anläßlich des denkwürdigen Treffens mit der jüdischen Gemeinde der Stadt Rom am 13. April 19862 genannt habe. In Besinnung auf das geistliche Erbe, das uns vereint, hat das II. Vatikanische Konzil, speziell in der Erklärung Nostra aetate, unseren Beziehungen zur jüdischen Religion eine neue Ausrichtung gegeben. Diese Lehre gilt es immer mehr zu vertiefen, und das Jubiläum des Jahres 2000 kann eine großartige Gelegenheit zu gemeinsamen Begegnungen sein möglichst an Orten, die für die großen monotheistischen Religionen Bedeutung haben.3
Es ist bekannt, daß die Beziehung zu den jüdischen Brüdern von den ersten Zeiten der Kirche an bis in unser Jahrhundert leider schwierig gewesen ist. Aber in dieser langen und leidvollen Geschichte hat es nicht an Augenblicken abgeklärten und konstruktiven Dialogs gefehlt. Diesbezüglich sei daran erinnert, daß das erste theologische Werk mit dem Titel „Dialog“, im zweiten Jahrhundert von Justin, dem Märtyrer und Philosophen, verfaßt, bedeutsamerweise dessen Gespräch mit einem Juden namens Tryphon gewidmet ist. Ebenso ist auf die dialogische Dimension hinzuweisen, die stark in der zeitgenössischen neujüdischen Literatur vorhanden ist, welche das philosophisch-theologische Denken des zwanzigsten Jahrhunderts tief beeinflußt hat.
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Auschwitz, Umschlagplatz 11.Juni 1999 Papst Johannes Paul II. mit Marek Edelmann, einer der Anführer des Warschauer Gettoaufstandes (April bis Juni 1943), und Kantor Symcha Keller. Foto: KNA |
Dieses dialogische Verhalten zwischen Christen und Juden ist nicht nur Ausdruck des allgemeinen Wertes des Dialogs unter den Religionen, sondern auch der Gemeinsamkeit des langen Weges, der vom Alten zum Neuen Testament führt. Es gibt einen langen Abschnitt der Heilsgeschichte, auf den Christen und Juden gemeinsam blicken. Denn „im Unterschied zu den anderen nicht-christlichen Religionen ist der jüdische Glaube schon Antwort auf die Offenbarung Gottes im Alten Bund“.4 Diese Geschichte wird von einer großen Schar heiliger Menschen erhellt, deren Leben den Besitz der erhofften Dinge im Glauben bezeugt. Der Brief an die Hebräer hebt gerade diese Glaubensantwort im ganzen Lauf der Heilsgeschichte hervor (vgl. Hebr 11). Mutiges Zeugnis für den Glauben sollte auch heute die Zusammenarbeit von Christen und Juden zur Verkündigung und Verwirklichung des Heilsplanes Gottes für die ganze Menschheit kennzeichnen. Wenn dieser Plan an einem gewissen Punkt bezüglich der Annahme Christi unterschiedlich interpretiert wird, führt das natürlich zu einem entscheidenden Unterschied, der für das Christentum selbst grundlegend ist. Er schließt aber nicht aus, daß viele gemeinsame Elemente bleiben. Vor allem bleibt die Pflicht zur Zusammenarbeit, um dem Plan Gottes besser entsprechende humane Bedingungen zu fördern. Das Große Jubiläum, das sich ja gerade auf die jüdische Tradition der Jubeljahre beruft, rückt die Dringlichkeit eines solchen gemeinsamen Einsatzes zur Wiederherstellung des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ins Licht. In Anerkennung der Herrschaft Gottes über die ganze Schöpfung und im besonderen über die Erde (vgl. Lev 25) sind alle Glaubenden aufgerufen, ihren Glauben in konkreten Einsatz zum Schutz der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in all seinen Formen und zur Verteidigung der Würde jedes Bruders und jeder Schwester umzusetzen.
Indem die Christen über das Geheimnis Israels und seiner „unwiderruflichen Berufung“5 nachdenken, erforschen sie auch das Geheimnis ihrer Wurzeln. In den biblischen Quellen, die sie mit den jüdischen Brüdern teilen, finden sie unentbehrliche Elemente, um ihren eigenen Glauben zu leben und zu vertiefen. Das sieht man zum Beispiel an der Liturgie. Wie Jesus, den Lukas uns vorstellt, wie er in der Synagoge von Nazaret das Buch des Propheten Jesaja aufschlägt, so schöpft die Kirche aus dem liturgischen Reichtum des jüdischen Volkes. Sie ordnet das Stundengebet, die Schriftlesungen und selbst die Struktur der eucharistischen Gebete nach den Vorbildern der jüdischen Tradition. Einige große Feste wie Ostern oder Pfingsten verweisen auf den Festkalender der Juden und stellen ausgezeichnete Gelegenheiten dar, des von Gott erwählten und geliebten Volkes (vgl. Röm 11,2) im Gebet zu gedenken.
Heute bedeutet Dialog auch, daß die Christen sich dieser Elemente, die uns einander näherbringen, vermehrt bewußt sind. Wie man den von Gott „nie gekündigten Bund“6 zur Kenntnis nimmt, so gilt es, den eigenen Wert des Alten Testaments7 anzuerkennen, auch wenn es seinen vollen Sinn im Licht des Neuen Testaments erfährt und Verheißungen enthält, die sich in Jesus erfüllen. Machte nicht etwa die von Jesus gegebene gegenwartsbezogene Darlegung der jüdischen Heiligen Schrift, daß den Jüngern von Emmaus „das Herz in der Brust brannte“ (Lk 24,32)?
Nicht nur die gemeinsame Geschichte von Christen und Juden, sondern besonders ihr Dialog muß auf die Zukunft ausgerichtet sein,8 sozusagen um „memoria futuri“ zu sein.9 Die Erinnerung an die bedauerlichen und tragischen Vorfälle der Vergangenheit kann den Weg zu einem neuen Sinn der Brüderlichkeit, Frucht der Gnade Gottes, öffnen und zum Einsatz dafür, daß der schlechte Samen des Anti-Judaismus und Anti-Semitismus nie mehr im Herzen des Menschen Wurzeln schlägt.
Israel, das Volk, das seinen Glauben auf die Verheißung Gottes an Abraham gründet: „Du wirst Stammvater einer Menge von Völkern“ (Gen 17,4; vgl. Röm 4,17), verweist vor der Welt auf Jerusalem als symbolischen Ort des eschatologischen Pilgerwegs der Völker, vereint im Lob des Höchsten.
Mein Wunsch ist, daß am Anbruch des dritten Jahrtausends der aufrichtige Dialog zwischen Christen und Juden beitragen möge, eine neue, auf den einen, heiligen und barmherzigen Gott gegründete Zivilisation zu schaffen im Dienst einer in der Liebe versöhnten Menschheit.
- Vgl. Tertio millennio adveniente (TMA) Nr. 52-53.
- Vgl. Documenta apostolicae sedis (DAS) 1986, 1245.
- Vgl. TMA, 53.
- Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), 839.
- Vgl. Ansprache anläßlich des Besuchs der römischen Synagoge, 13. April 1986; in DAS 1986, 1245.
- Vgl. Ansprache an die Vertreter der jüdischen Gemeinde in Mainz, 17. November 1980; in: O. R. dt. , 21.11.1980, 17.
- Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dei verbum, 3.
- Vgl. KKK, 840.
- Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden, Wir erinnern uns: Nachdenken über die Schoa, 16. März 1998; publiziert in: FrRu 5(1998)167-177.
(Aus: L‘Osservatore Romano, 7. Mai 1999, 2; Orig. ital. in O. R., 29. April 1999)
Jahrgang 6/1999 Seite 259