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Amichai, Jehuda

Zeit

Gedichte. Aus dem Hebräischen von Lydia und Paulus Böhmer. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1998. 67 Seiten.

Jehuda Amichai zählt zu den profiliertesten israelischen Dichtern der Gegenwart. So dankbar man dem Verlag auch sein muß, daß er das Wagnis eingegangen ist, die Gedichte eines hierzulande wenig bekannten Lyrikers herauszubringen, so hätte man sich doch für den deutschen Leser ein kurzes Vor- oder Nachwort, das in das lyrische Werk des Autors einführt und vor allem auch den zeitlichen Entstehungsrahmen der Gedichte skizziert, gewünscht. Der gleichnamige hebräische Gedichtband erschien 1977, einige Jahre nach dem Yom-Kippur-Krieg. Viele Gedichte sind unmittelbar unter dem Eindruck dieser existentiellen Bedrohung Israels und der Beinahe-Katastrophe verfaßt worden. Der Krieg ist in diesen Gedichten fast immer präsent. Auch die Liebe spielt sich im Schatten des Krieges ab. Im Unterschied zu Kohelet, wo alles noch seine eigene Zeit hat, betont Amichai das Kennzeichen der modernen israelischen Existenz: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen:

„Er muß hassen und lieben zur gleichen Zeit, mit den gleichen Augen weinen und lachen, Steine werfen mit den gleichen Händen, mit den gleichen Händen sie sammeln. Er muß Liebe machen im Krieg und Kriege in der Liebe.“

Besser kann man den schizophrenen Zustand einer Gesellschaft, die seit fünfzig Jahren in permanenter Bedrohung von außen bzw. im Dauer-Ausnahmezustand lebt, nicht auf den Punkt bringen.

Die jüdisch-orthodoxe Erziehung, sein deutsch-jüdisches Elternhaus sowie die Militärzeit in der Britischen Armee (1942-1946) haben Amichais literarisches Werk entscheidend geprägt. Seine Gedichte erinnern an Rilke und Wystan H. Auden, seine beiden großen europäischen Vorbilder. Der englische Lyriker Ted Hughes hat einmal über seinen israelischen Kollegen geschrieben, es sei bei ihm als ob der ganze geistige Schatz des jüdischen Volkes plötzlich in eine neue Währung umgemünzt werde. Amichais Sprache hat einen familiären Ton, sie ist persönlich, auch wenn sie gelegentlich aus den Tiefen des jüdischen Kultus und seiner mythisch-liturgischen Sprache schöpft. Auffälligstes Kennzeichen seiner Dichtung ist die einfache Form, der beiläufige Ton, mit denen Bilder und Metaphern zum Sprechen gebracht werden. Amichais späte Lyrik ist stark autobiographisch, indem sie persönliche Erlebnisse aus dem Alltag des Dichters verarbeitet. Auch die Sprache hat sich gegenüber den Anfängen ein wenig geändert. Der metaphernreiche Stil ist einem häufig nüchternen, wenig verbrämten Ton gewichen, voller Nachdenklichkeit und mit Anflug von Trauer und Nostalgie in der Stimme, wie z. B. in dem Gedicht „Alle Generationen vor mir“, mit dem sich der Dichter in die lange Kette der jüdischen Geschichte einreiht:

„Ich bin über Vierzig. Es gibt Stellungen, für die man mich nicht nehmen würde / deshalb. Wäre ich in Auschwitz gewesen, man hätte mich gleich verbrannt. Das verpflichtet.“

Amichai fühlt sich als Dichter verpflichtet, die Zeit zwar nicht anzuhalten, sie aber in Worten zu konservieren. So ähnelt der Dichter der Gestalt des jüdischen Vaters, die er in einem seiner Gedichte so beschreibt: „Ein Mann, vergangenheitsbefallen, zukunftskrank“.

Anat Feinberg


Jahrgang 6/1999 Seite 284



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