Beck, Norman A.
Die antijüdische Polemik des Neuen Testaments und ihre Überwindung. Institut Kirche und Judentum. Hrsg. von Peter von der Osten-Sacken. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christoph Kock, Thomas Krapf und Christoph Münz. Berlin 1998. 448 Seiten.
Dieses Buch greift ein für das jüdisch-christliche Verständnis grundlegendes Thema auf und bewegt sich dabei vor allem in drei Dimensionen. 1) Es ist eine exegetische Arbeit, die eine umfangreiche Bestandsaufnahme über die antijüdische Polemik in allen Schriften des Neuen Testaments bietet. Es schlägt dafür einen großen Bogen von den paulinischen und den Paulus zugeschriebenen Schriften über die vier Evangelien zur Apostelgeschichte und zu den übrigen Schriften des NT. Dabei kommen die Perikopen und einzelnen Verse in den Blick, die eine mehr oder weniger scharfe Polemik gegen das Judentum enthalten. Aufschlußreich sind die vielen synoptischen Vergleiche. Hier findet man die bekannten judenpolemischen Texte, aber auch jene Stellen, die leicht der Aufmerksamkeit entgehen. Als judenfeindlichste Schrift wird die Apostelgeschichte ausgemacht. Insgesamt führt Beck die antijüdische Pole-mik auf drei Wurzeln zurück. Sie kommt aus der Christologie, aus einer Enterbungstheologie des Judentums und aus einem Hang zur Diffamierung. Beck trägt viele Gesichtspunkte zusammen, die zeigen, wie die Lehre der Judenverachtung entstanden ist. Aber er ist auch voller Zuversicht, daß diese Lehre innerhalb der Kirche überwunden werden kann. 2) Pastoral und praktisch orientiert zeigt es, wie mit dem erschreckenden Befund in Liturgie und Verkündigung umzugehen ist. Dazu schlägt der Autor eigene und eigenwillige Übersetzungen vor oder bietet Kommentierungen, die die notwendige Distanz von dieser Polemik sichtbar machen sollen. So sollen z. B. „Pharisäer und Schriftgelehrte“ mit „einige religiöse Autoritäten, die Jesus bekämpften“ übersetzt werden. 3) Schließlich legt Beck theologisch-systematische Überlegungen zu den Konsequenzen vor, die für die christliche Lehre zu ziehen sind. Nach Beck dürfe das Neue Testament nicht nur eine Autorität für Christen sein, auch Christen stünde eine Autorität über das Neue Testament zu. Christen dürften solche Texte der Judenpolemik weder akzeptieren noch durch unhaltbare Interpretationen zu entschärfen suchen. Der Begriff der Inspiration sei neu zu fassen. Wer die Bibel für letztgültig, irrtumsfrei und unfehlbar ansehe, schreibe ihr göttliche Eigenschaften zu und betreibe daher Götzendienst. Ein solch statischer Begriff sei abzulehnen. Inspiration sei eher ein dynamisches Wechselspiel zwischen der Kirche und dem Text, in dem die Christen Gottes Anruf wahrnehmen, die beschädigte Welt wieder instandzusetzen. Erst wenn das Christentum einen solchen kreativen Umgang mit dem Neuen Testament praktiziere, werde es mündig und gewinne für das 21. Jahrhundert neues Vertrauen und neue Lebensfähigkeit. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß dieses theologische Konzept in den Kirchen auf harten Widerspruch stoßen wird. Man wird dem Autor vorwerfen, die Grundlagen zu zerstören, auf denen christliche Theologie beruhe. Aber auch die Kirchen werden sich damit auseinandersetzen müssen, wie sie die neutestamentlichen Schriften theologisch qualifizieren, die eine so breite anti-jüdische Polemik aufweisen, aus der im Laufe der Jahrhunderte die schlimmsten Katastrophen für das Judentum erwachsen sind.
Werner Trutwin
Jahrgang 6/1999 Seite 287