Dick Verlag, Straubing 1995. 128 Seiten.
Ende des 19. Jahrhunderts verläßt der junge Talmudschüler Elieser sein jüdisches Städtel, um in Prag seinen Traum zu erfüllen. Er will Medizin studieren und Arzt werden, gerät jedoch sofort in die antisemitischen Fänge seiner Mitstudenten. Es nützt ihm nichts, daß er seine Schläfenlocken abschneidet und neue Kleider anzieht, er bleibt der „jüdische Knoflfresser“. Nach einem Fechtduell, das er nur schwer verletzt überlebt, beendet er sein Studium und gibt sich in die Obhut eines jüdischen Pfandleihers, der ihn zum Alleinerben seines Geschäftes macht. Er lernt dieses Geschäft mit der gleichen Intensität, wie er früher die Heiligen Schriften und später die medizinischen Bücher studierte. Unterschwellig bleibt jedoch sein Wunsch nach Rache an denen, die ihn aus der Universität vertrieben haben. Seine Stunde kommt, nachdem der alte Pfandleiher gestorben war. Ein ehemaliger Mitstudent betritt das Geschäft, um Verlängerung für seinen Kredit zu erbitten. Elieser bleibt hart. Die Folge: Der Student erschießt sich aus Verzweiflung. Erst später erfährt Elieser: Dieser Student war der einzige, der ihn verteidigt hatte. Diese Erfahrung ist ihm eine Lehre. Er beendet Haß und Rachsucht und versucht durch Barmherzigkeit gerade gegenüber Studenten, seinen Fehler wieder gut zu machen.
Und er hat Erfolg. Am Ende seines Lebens ist er ein wohlhabender und geschätzter Mann. Bei seinem Begräbnis sind sich alle — Juden wie Christen — einig, „daß mit Elieser Welsch, zumindest hier in Prag, auch der Streit zwischen Christen und Juden zu Grabe getragen wurde“.
Der Tod Eliesers fällt zusammen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und die Erzählung schließt mit dem Ausblick auf das Kommende: „Doch da traten in vielen böhmischen Kleinstädten Kerle in Militärkappen und Militärblusen auf, mit Hacken und Drahtscheren über der Schulter, wie sie an der Front zum Durchtrennen der Drahtverhaue benutzt wurden. Mit diesen schnitten sie sachkundig die eiligst heruntergelassenen Rolläden vor den jüdischen Geschäften durch, mit den Äxten schlugen sie die Scheiben ein und plünderten anschließend die Regale ... Die Übeltäter wurden, falls man sie faßte, verurteilt, aber die Drahtzieher im Hintergrund gingen straffrei aus. Und niemand machte sich große Mühe, nach ihnen zu fahnden.“
Dem bayrischen Autor Carl Erras, der im Ruhestand die Schriftstellerei entdeckt hat, ist mit seiner Geschichte über den Darlehner Welsch mehr als eine großartige Erzählung gelungen. Es ist ein ausgezeichneter Einblick in das jüdische Leben vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem in das jüdische Leben in der Stadt Prag: „das goldene, das dreieinige, dreigeteilte Prag, an dem Böhmen, Juden und Deutsche ihren Anteil hatten“. Und es ist der gelungene Versuch eines Christen, das Judentum zu verstehen und jene antijüdischen Tendenzen aufzudecken, die zur nationalsozialistischen Massenvernichtung geführt haben und noch heute immer wieder aufkeimen.
Herbert Winklehner
Jahrgang 6/1999 Seite 291