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Klemperer, Viktor

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten

Tagebücher 1933-1945. 2 Bände. Aufbau-Verlag, Berlin 1995. 763 und 928 Seiten.

Ein hoch gefeiertes Buch! Zu Recht? Das wäre hier zu untersuchen. Sicher ist: das Buch kommt dem Mitteilungswert nach mindestens zwanzig Jahre zu spät, der allgemeinen Akzeptanz nach wohl zur rechten Zeit. Neue relevante Erkenntnisse über den NS-Staat und seine Schrecken für die deutschen Juden bietet es nicht. Den Hauptteil der „Tagebücher“ bildet — mit Wiederholungen bis zum Überdruß — das Psychogramm eines Graphomanen. Die egozentrischen Betrachtungen in einen Zusammenhang zu bringen, der ihnen nicht zusteht, ist unredlich, jedoch nicht die Schuld des Diaristen, sondern der Herausgeber und Bearbeiter.

Der Titel des Werks ist bereits irreführend, denn er suggeriert, daß nur über die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ Tagebuch geführt wurde. Doch Klemperer schreibt schon seit seinem sechzehnten Lebensjahr an seinen Tagebüchern. Er legt nicht vor einer höheren Instanz Zeugnis ab, er spricht für sich über sich, über seine Befindlichkeiten und das, was man eben seinem Tagebuch anvertraut. Er nimmt sich selber so wichtig, daß er diese Notizen für sein „curriculum vitae“ verwenden will. Dazu bedarf es auch der Erwähnung der äußeren Lebensumstände, doch die Welt spielt nur am Rande eine Rolle. Er hatte ja nie die Absicht, die Tagebücher zu veröffentlichen und damit Zeugnis abzulegen. Er übergab sie erst am Ende seines Lebens der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden, wo sie Martin Walser 1989 entdeckte.

Ein einziges Mal schreibt Klemperer: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ Liest man seine Ergüsse genau, dann bezeugt dieser Satz beispielhaft seine egozentrische Selbstüberschätzung. Peinlich zu lesen sind die fehlerhaften gespreizten französischen und italienischen Floskeln, bekennt er doch selbst, daß er nicht auswandern und sein Brot eventuell als Sprachlehrer verdienen könne, weil er, der Romanist, französisch weder sprechen noch schreiben und nur in Deutschland leben könne, weil er in seinem Fach „nur aus deutscher Sicht und auf Deutsch Kolleg halten kann“... Das berühmte Kürzel LTI für „LINGUA TERTII IMPERII“ (Sprache des Dritten Reiches) beruht auf Bildungsstolz; „... schöne, gelehrte Abkürzung für lingua tertii imperii, künftig zu benützen!“ und ist keine Tarnung, wie es seine Apologeten gern hätten. Er verwendet weder das Kürzel noch den lateinischen für den deutschen Ausdruck konsequent. Hätte er tarnen wollen, hätte er zuerst die Namen seiner Leidensgenossen und der paar tapferen arischen Freunde kodieren müssen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Im Zusammenhang mit LTI schreibt er dem NS-Sprachgebrauch auch Wörter zu, die er selber schon Jahre vorher benützte. Oft interpretiert er die inkriminierten Wörter philologisch auch falsch und will nicht wahrhaben, daß sich Sprache verändert. Was nicht in sein traditionalistisch bildungsbürgerliches Deutsch paßt, schreibt er vielfach dem „unkultivierten“ Amerika zu, was nicht „deutsch“ ist, ist suspekt. Wiederholt betont er: „Ich bin nur deutsch“, „entartete Kunst ist magenumdrehend und undeutsch“.

Sein Judentum ist ihm peinlich, und er verachtet die „geldgierigen Ostjuden“, die eigentlich schuld am Antisemitismus seien. Seine Konversion zum Protestantismus geschieht aus opportunistischen Gründen. Nach Kriegsende nähert er sich der jüdischen Kultusgemeinde, denn jetzt verspricht Jude-Sein Bevorzugung. Später liebäugelt er noch mit dem Katholizismus. Was immer ihm Stellung und Ansehen bringen könnte, dem verschreibt er sich. Nach dem Einmarsch der Amerikaner pocht er bei den Besatzern auf sein Judentum und seine ehemalige Stellung als „Professor“. Er rühmt sich auch der Verwandtschaft mit dem bekannten Dirigenten Otto Klemperer, mit dem er aber keine Verbindung hatte.

Über seine wissenschaftliche Arbeit hält Klemperer fest: „Es ist erstaunlich, mit wie begrenzten geistigen Fähigkeiten ich meine Laufbahn gemacht habe (ebenso erstaunlich mit wie wenig Fachwissen).“ Der Historiker und Philologe Klemperer notiert zu Martin Buber: „Bubers ,Chassidismus‘, seine Einleitung über jüdische Mystik machen mich förmlich krank. Dunkelste Verschwollenheit“ (145, II); über Franz Rosenzweig: „Er vaut nicht die aufgewendete peine und Zeit“ (552, II). „Hugo von Hofmannsthal ist mir zu künstlich und preziös“ (416, II). Filme mit Zarah Leander findet er aber „tiefempfunden“. Sein körperliches Befinden wird hypochondrisch registriert. Er hat entsetzlich Angst, an seinen Herzbeschwerden zu sterben, doch kein Arzt erkennt einen objektiven Befund; Klemperer wird immerhin 79 Jahre alt. Daß sein Leben mit seiner Ehefrau Eva mühsam ist, deren Schreikrämpfe und Depressionen er täglich notiert, glaubt man ihm gern, besonders da er den ganzen Haushalt besorgen muß, inklusive Katzenkistchen säubern, weil Eva den ganzen Tag im Bett liegt und anscheinend nicht gerne Hausarbeit macht. Zudem muß er ihr von morgens früh bis abends spät Trivialliteratur vorlesen. Dazu bemerkt er einmal, daß er „Wilhelm Meister“ nie gelesen habe, was vielleicht ein Bildungsmanko sei. All das mag hingehen, doch sein Verhalten gegenüber seinen jüdischen Leidensgenossen ist abstoßend. Er berichtet, daß er, obwohl durch seine arische Ehefrau in allem privilegiert, aus den Küchen und Zimmern der „Judenhäuser“, in die die Juden zusammengepfercht waren, bei jeder sich bietenden Gelegenheit rarste Dinge wie Zucker, eine Kartoffel oder Zwiebel stiehlt. So ist auch sein erster Gedanke, wenn wieder einer der Juden ins KZ kommt oder ermordet wird: da kann ich wieder zu Rationierungsmarken kommen! Das ist gewiß nicht schön, aber menschlich und vielleicht für einen Psychologen verständlich. Als „Zeugnis“ für die Nazizeit ist es belanglos und trägt nichts zur Erkenntnis oder zur Vermeidung der Wiederholung der Katastrophe bei. Bezeichnenderweise ist Dirschauers Buch auch im Psychosozial-Verlag erschienen.

In der An- und Einleitung zu den Tagebüchern befaßt sich Johannes Dirschauer eingehend mit Klemperers Herkunft, dem Verhältnis zu seinen älteren, erfolgreichen Brüdern, der wechselvollen Schul- und Berufsausbildung, dem nicht ausgetragenen Vater-Sohn-Konflikt, der ebenso chaotischen wie freudlosen Ehe mit seiner psychisch instabilen, frustrierten und anspruchsvollen Frau Eva. Klemperers Sprachgemisch wird als Zeichen von Gelehrsamkeit beurteilt und psychologisierend erklärt. Doch auch Dirschauer wundert sich über Klemperers Opportunismus und Hypochondrie. Der bereits unter NS-Herrschaft und trotz akutestem Geldmangel durchgeboxte Hausbau, sein Fahrunterricht und Autokauf werden als ,mutige Tat‘ beurteilt. Klemperers moralisierende Kritik an dem „geschminkten“ weiblichen amerikanischen Militärpersonal und dem gar nicht preußisch disziplinierten Umgang der Sieger untereinander oder den Ärger darüber, daß diese besser zu essen haben als sie, die innerdeutschen Flüchtlinge, übergeht Dirschauer. Das sind wohl Zeugnisse, aber nicht im Sinne des Buchtitels. Natürlich kommen auch die jeweils neuen Judengesetze und Verordnungen zur Sprache, freilich nicht so häufig, wie seine und Evas Launen. Wirklichen Zeugnischarakter haben die Eintragungen nicht. Kurz nach Kriegsende hätten sie wahrscheinlich zum besseren Verständnis und zur Aufklärung über die NS-Zeit beitragen können. Dazu hätte es allerdings in der DDR eines coming-out und eventuell der Rechenschaft gegenüber den Überlebenden bedurft und nicht des vordringlichen Strebens, möglichst schnell wieder „Professor“ zu werden.

Heute irritieren die Tagebücher nur. Doch noch mehr stört das Lob der Apologeten, die es nicht wagen, Berichte von Juden genau und kritisch zu werten aus Angst, sich dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen oder weil es einfach „in“ ist, in jeder jüdischen Literatur Bedeutendes zu finden. Cui bono? Philosemitismus kann schädlicher sein als offener Antisemitismus, weil er Bevorzugung bedeutet und diese wiederum zu Neid und Mißgunst führt. Wenn diese Tagebücher schon veröffentlicht werden mußten, wäre oberstes Gebot gewesen: „kürzen, kürzen, kürzen!“ Haben die Rezensenten wirklich alle 1700 Seiten gelesen und ihr literarisches Urteil unterdrückt?

Eva Auf der Maur


Jahrgang 6/1999 Seite 297



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